16. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2013

Komplexes Denken

von Henryk Goldberg

Es ging einfach nicht. Es kam nichts raus. Aus dem Drucker. Nicht das poplige kleine Ding zu Hause. Nein, wir haben hier im Großraum einen wunderbaren Wunderdrucker. Den benutzen alle Kollegen. Zum Beispiel, wenn wir voller Vorfreude auf die Zeitung des kommenden Tages eine komplette Seite ausdrucken, was natürlich ein unverdientes Privileg ist. Schließlich, der liebe Leser muss sich auch gedulden bis zum nächsten Morgen, ehe er mit der allergrößten Erwartung zum Briefkasten rennt. Also, da kommen die Seiten raus, in bunt und groß. Und wenn es sich um Beiträge von mir handelt, dann manchmal sogar in 3D (3 Dativfehler pro Artikel).
Aber da kam nichts raus. Er tat es nicht. Ich drückte hier eine Taste, ich korrigierte da eine Einstellung, aber es ging nicht. Komplexe Gerätschaften haben so ihre Sensibilität – wie komplexe Menschen, also Männer.
„Männer und Technik“ sagte Frau H. und lachte herzlich. Dabei, mir war nur die Kaffeetasse umgefallen, weil ich noch einige Sekunden wartete, und ich hatte, gegen die Gewohnheit, noch nicht einmal gekleckert. Wir haben hier oben nämlich nicht nur einen wunderbaren Drucker, wir haben auch einen wunderbarer Kaffeeautomaten. Der frischt nicht nur, gegen Barzahlung, von Zeit zu Zeit den Geist auf, der hat auch den Zeitgeist in sich. Denn sie haben da einen Trick eingebaut. Das Wechselgeld fällt nämlich erst einige Sekunden, nachdem der letzte Tropfen die Tasse erreichte, in den Schacht. Was wir natürlich erst einige Tage nach dem Umzug begriffen. Was wiederum bedeutete, dass mancher so manche Münze liegen ließ. Mitunter bewirkte das wohl eine Art gerechte Umverteilung von Vermögenswerten. Wenn nämlich der folgende  Kaffeekäufer ein Volontär war oder ein recht junger Kollege. Die müssen bekanntlich mehr arbeiten und erhalten zum Ausgleich weniger Geld. Wenn also einer von denen meinen Euro fand, dann lag darin eine Art von ausgleichender Gerechtigkeit. Was ich als ein Mensch mit außerordentlich hohen moralischen Maßstäben selbstverständlich in Ordnung fand.
Aber nicht schön. Irgendwie hätte man sein Geld schon ganz gern selbst in der Hand. Außerdem konnte es gut sein, der nachfolgende Kaffeekonsument war ein Leitungsmensch, und die muss unsereiner ja nun wirklich nicht sponsern. Zumal, man konnte sich so noch nicht mal einschleimen, die wussten ja nicht, von wem das Geld kam. Und wenn doch, dann hätten sie, als Menschen mit noch außerordentlicheren moralischen Maßstäben, ein schlechtes Gewissen.
Kurz und gut, jetzt stürzt niemand mehr davon, sobald die Tasse gefüllt ist, um hektisch wieder an den Arbeitsplatz zu eilen. Die Zeitung wird trotzdem voll. Jetzt warten wir, um zu sehen, ob vielleicht eine Münze herausfällt. Denn da Journalisten ein ganz, ganz schlechtes Gedächtnis haben – deshalb vergessen wir auch manchmal, was wir vor zwei Monaten oder zwei Jahrzehnten dachten – weil das also so ist, wissen wir auch nicht mehr so genau, ob wir 50 Cent oder zwei Euro eingeworfen haben. Wir warten also, ob noch was kommt. Und erfüllen so eine Forderung, die Psychologen, Zeitgeistwissenschaftler, Phlegmatiker und andere wichtige Persönlichkeiten immer wieder stellen: Entschleunigung. Selbstfindung. Das ist Hygiene für die Seele, das ist Depressionsvorsorge für sensible Menschen. Deshalb stand ich etwas länger am Automaten. Aber so etwas begreift eine Frau nicht. Da guckt sie dann eben so lustig und lacht.
Übrigens auch das mit dem Drucker war so ein Ding. Da kam nämlich Frau Sch., die Archivchefin, und ging das Problem mit einer Brutalität an, die einem sensiblen und komplex denkenden Mann fremd ist: Sie schaltete den Drucker ein.