16. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2013

Querbeet (XIX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp – diesmal ein Prosit Neujahr mit Ariadne, Blähungen junger Regie-Tiger, ligurisches Blütenmeer in Wien, galizischer Romeo im Kino, Klo mit Glühbirne

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„Kam der neue Gott gegangen, hingegeben war ich stumm.“ So zwitschert Zerbinetta, eine durch Leben, Liebe, Lebensliebe schlau Gewordene. Doch Kollegin Ariadne klebt in Treue fest an verlorener Liebe, verlorenem Gott, am Alten und Vergangenen. Nichts will sie wissen von den „grausamen, entzückenden, unbegreiflichen Verwandlungen“ des Daseins, die Zerbinetta beschwört.
Wohl kein Stück passt besser in den Wechsel der Jahre wie die Oper „Ariadne auf Naxos“ von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Volksliedhaft einfach und heroisch monumental, komödisch leicht, schwer tragödisch, satirisch spitz und philosophisch tief.
Hofmannsthal brieflich an Strauss: „Es handelt sich um ein simples und ungeheures Lebensproblem: das der Treue. An dem Verlorenen festhalten, ewig beharren bis an den Tod – oder leben, weiterleben, hinwegkommen, sich verwandeln, die Einheit der Seele preisgeben, und dennoch in der Verwandlung sich bewahren, ein Mensch bleiben…“ Kein schöner Wort zum Neuen Jahr! ‑ Es sei vermerkt: Die bittersüße Geschichte geht gut aus: Ariadne findet doch zu neuer Liebe, verlässt Naxos und sticht in schäumende See: Auf zu neuen Ufern des Lebens. Herrlich! Noch im alten Jahr neu an der Wiener Staatsoper. Sah aber aus, als war die Regie magenkrank. Schade, doch Noten und Worte dieses Stücks triumphieren allemal über jede Inszeniererei. Herrlich!

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Wenig später: Im Großen Musikvereinssaal zum Neujahrskonzert („heuer 50 Millionen TV-Seher“) der Wiener Philharmoniker, die auch bei „Ariadne“ im Operngraben tönten. Heuer fand Kapell-Chef Franz Welser-Möst heraus, dass allein im von ihm dirigierten Neujahrs-Programm mit Werken der Komponistenfamilie Strauss „200 Melodien“ aufklingen; in einer Bruckner-Sinfonie seien es „bloß zehn“. Also 200 Melodeien in zwei Stunden. Die totale Strauss-Seligkeit nebst einer Prise „Lohengrin“ und „Carlos“ als Küsschen ins Wagner-Verdi-Jubiläumsjahr. Zum Träumen, Seufzen, Jauchzen, Mitklatschen inmitten eines frühlingshaften Blütenmeeres, von ligurischen Gärtnern in den Saal gegossen. Hingegeben sind wir stumm. Und brüllen „Prosit Neujahr!“

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Der Regisseur Patrick Steinwidder war gerade dreißig, da feierte man ihn schon als Theaterwunder in seiner Heimat Österreich sowie in London. Und prompt stehen erste Häuser danach Schlange – wie das Bayerische Staatsschauspiel. Arthur Schnitzlers Skandalstück übers erotische Getummel von 1920 „Der Reigen“ soll es sein in München. Doch wo beim Autor Trauer über die Unmöglichkeit von Liebe schwingt und still verzweifelt Einsamkeitsangst gärt, regiert bei Steinwidder allein Gewalt. Kein Sex, Machtgier treibt die Menschen an- und ineinander. Zwei Schauspieler demonstrieren technisch perfekt den rohen Reigen mechanisch keuchender und kloppender Koitusakrobaten: Sophie von Kessel und Guntram Brattia (plus im Kurzeinsatz Veronika Mauer als „süßes Mädel“). Was provokativ gemeint war, ist peinlich platt. Qualvoll, diese Schnitzler-Vergewaltigung.

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Auch Rafael Sanchez zählt zu den zahlreich umherschwirrenden, selbst von großen Staatstheatern sofort herbei zitierten jüngeren, durchaus nicht unbegabten, doch naturgemäß erfahrungsarmen Regisseuren, die platzend vor Ehrgeiz, Provokationsgier und vermeintlichem Neuerertum unsere Weltdramatik wüst herrichten fürs angeblich total coole Gegenwartsvolk. Und dabei mit dressierten Spielern bloß Unausgegorenes liefern. Das Berliner Pendant zu München: Shakespeares „Coriolanus“ am Deutschen Theater.
Coriolanus war zwar ein gefeierter Kriegsheld, aber untauglich fürs Regieren. Ist er doch einfach zu hochmütig, der Menge und ihren nur auf Eigenvorteil erpichten Tribunen schön zu tun. Lautstark schimpft er sein Wahlvolk blöd, findet Wahlen lächerlich, wird aus Rom verjagt, verbündet sich mit Roms alten Feinden, gerät tödlich zwischen alle Fronten. ‑ Die Tragödie handelt vom demagogisch-manipulativen Umgang mit Wahrheit; umspielt die vertrackte Dialektik zwischen Oben und Unten, Herrschaftsanspruch und politischer Taktik, Masse und Macht. Doch das ist zu viel für Sanchez. Also pickt er nach dem griffigsten Stichwort, eben dem vom doofen Volk. Und malt es dick aus mit gängigen Gesten des gegenwärtigen Politikbetriebs, garniert mit poppigem Sound sowie Video-Verwirrung. Den Rest vom Drama lässt er kurz runter plappern. Auch eine Autoren-Vergewaltigung.

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Ganz große Oper: Der Auftritt des Universalkünstlers Karl Friedrich Schinkel im Kulturforum Berlin. Ein Phantast („Preußisches Arkadien“), ein Besessener, ein Poet, Praktiker, Ästhet („Spree-Athen“). Ein Erzieher des Menschengeschlechts. Ein Vorbild. Ein Pflichttermin für heutige (zum Großteil läppische) Umweltgestalter aller Art. – Seltsamkeit im Foyer: Steht da auf dem edel marmorierten Steinfußboden eine Glasvitrine, drin ein kunstvoll verdrecktes Klobecken, illuminiert von einer gelblichen Glühbirne. Gruß an Schinkel? Gegenwartskunst! – „Wesentlich für ein Kunstwerk sind Urheber und Empfänger. Was dazwischen liegt, ist notwendiges Übel“, philosophierte Kurt Tucholsky, der übermorgen Geburtstag hat. Sein 123. Kleiner Gruß online.

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Als Teenager türmte er von zu Hause. Die galizische Provinz war allzu fad und eng für einen, dem ein Besuch im Stadttheater zu Lemberg schlagartig klar machte: Ich muss Schauspieler werden. Alexander Granach (1890-1945) dampfte ab ins wilde Berlin, nahm Privatunterricht auch bei Max Reinhardt und wurde quasi über Nacht zum Star des Deutschen Theaters und des deutschen Films. Brecht über Freund Granach: „Frech, aufdringlich, brüllend, das der Kronleuchter wackelte“; sollte ein Lob sein. Fritz Lang hielt ihn „für einen der größten Schauspieler der Welt“. 1933 musste der kleine Kerl mit Hang zu großen blonden Frauen fliehen. Über die UdSSR (wo er allein durch Intervention von Lion Feuchtwanger Stalins Schergen entkam) gelangte er schließlich nach Hollywood, wo ihm eine Zweitkarriere glückte („Ninotschka“, „Hangmen Also Die“). Und wo er allzu früh starb.
Jetzt erzählt ein Dokumentarfilm von Angelika Wittlich das Leben dieses verrückten Abenteurers und genialischen Künstlers – vielleicht allzu heftig eilend von Station zu Station, anstatt öfters innezuhalten mit überlieferten Dokumenten seiner Schauspielkunst. Dennoch: „Alexander Granach – Da geht ein Mensch“ ist ein grandioses Gespräch über Granach; basierend vor allem auf dessen autobiografischem Roman gleichen Titels (unbedingt lesen! Amazon!). Und auf den mehr als 300 Briefen, die der verführerische Künstler, Kommunist und Kampftrinker ab den dreißiger Jahren schrieb an seine zu deren Leidwesen nie geheiratete Geliebte, nämlich die Schweizer Schauspielerin Lotte Lieven. Ihre Antworten sind verschwunden. Doch filmisch zwischen geschaltete „Lesungen“ (Juliane Köhler, Samuel Finzi) aus Autobiografie und Liebesbriefen ergeben einen aufregenden Dialog.
Ein schöner, ein herzbewegender Film. Der endlich ins allgemeine Bewusstsein rückt: Granach war nicht nur im Theater ein Großer (nach eigener Meinung: der Allergrößte). ‑ „Solange das All ist, werde ich sein, und wenn ich nicht sein werde, wird auch das All nicht sein.“ Es ist aber! Und also auch er. Bis zum nächsten Querbeet.