16. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2013

„Fürchtet Euch nicht!“

von Ove Lieh

(Die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten – reading worker’s cut)

Ich hätte schwören können, dass er die Freiheit des Faselns zum Faseln über Freiheit nutzen würde und dann kommt das Wort in der Rede nicht einmal vor. Vielleicht muss man bei so einer Rede auch zwischen den Zeilen lesen oder auch in den Sprechpausen was hören. Weil das aber nicht jeder kann oder vielleicht auch nicht alle 80 Millionen vor den Volksfernsehgeräten (ALDI) sitzen oder im Volksinternet mit ihrem Volksnotebook nachlesen konnten, wird hier der vollständige Text nachgereicht.

Liebe Bürgerinnen und Bürger hier im Land,
liebe Landsleute in der Ferne,
liebe Volksgenossen in der Nähe,
es ist Weihnachten. Ach was! (Loriot) Viele von uns lesen und hören in diesen Tagen die Weihnachtsgeschichte. Genau, mit diesem Widerling Scrooge und den drei Geistern. In dieser Geschichte um das Kind in der Krippe… Moment, Moment, mir gäbet unser Bübele net in de Krippen und der kleine Junge war nicht in der Krippe, sondern gehbehindert… begegnen uns Botschaften, die nicht nur religiöse, sondern alle Menschen ansprechen: „Fürchtet Euch nicht!” und „Friede auf Erden!”  Was ist mit Freiheit?!
Wir sehnen uns nach Frieden – auch und gerade, weil in der Realität so viel Unfriede, so viel Krieg herrscht. Wenn mehr Frieden herrschte, könnten wir uns auch wieder mehr nach Krieg sehnen.
Vor wenigen Tagen bin ich aus Afghanistan zurückgekehrt. Schade! Es hat mich beeindruckt, wie deutsche Soldatinnen und Soldaten unter Einsatz ihres Lebens Terror verhindern und die Zivilbevölkerung schützen. Übrigens auch unter Einsatz des Lebens der Zivilbevölkerung.  Mein Dank gilt ihnen – wie auch den zivilen Helfern dort.
Eine solche Reise führt dem Besucher vor Augen, wie kostbar der Frieden ist, der seit über 60 Jahren in Europa herrscht. Ach was, ist der Jugoslawienkrieg schon wieder so lange her? Gesichert hat ihn die europäische Idee. Vom Alldeutschen Bund über Reichswirtschaftsminister Funk und das Reichsaußenministerium unter von Ribbentrop, und zwar, dank personeller Kontinuität, über die Römischen Verträge bis heute. Zu Recht hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten. Jetzt aber ist die Frage: Wird unser politischer Wille zusammenhalten können, was ökonomisch und kulturell so unterschiedlich ist?
Deutschland hat die Krise bisher gut gemeistert. Verglichen mit anderen Europäern geht es den meisten von uns wirtschaftlich gut, ja sogar sehr gut
. Und verglichen mit den meisten Afrikanern erst! Zudem ist Deutschland politisch stabil. Radikale Parteien haben nicht davon profitiert, dass ein Teil der Menschen verunsichert ist.
Sie sind verunsichert angesichts eines Lebens, das schneller, unübersichtlicher, instabiler geworden ist. Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander,
wenn sie mal zusammenklappt, zerschneidet sie noch das letzte Band zwischen beiden, so wie gerade in Griechenland, der Klimawandel erfordert ebenso neue Antworten wie eine alternde Gesellschaft, ach was, die verstehen doch nicht einmal mehr die Frage. Sorge bereitet uns auch die Gewalt: in U-Bahnhöfen oder auf Straßen, wo Menschen auch deshalb angegriffen werden, weil sie schwarze Haare und eine dunkle Haut haben. Ach was, werden die deswegen angegriffen? Nicht, weil es Verbrecher gibt, die glauben, dass man das tun dürfte oder müsste, genauso, wie alte Leute ja nicht überfallen werden, weil sie eine Handtasche oder Bargeld haben, sondern weil jemand glaubt, er könne sie ihnen ungestraft wegnehmen.
Angesichts all dessen brauchen wir nicht nur tatkräftige Politiker, sondern auch engagierte Bürger. Und – manchmal brauchen wir eine Rückbesinnung, um immer wieder zu uns und zu neuer Kraft zu finden.
Dazu verhilft uns Weihnachten. Für Christen ist es das Versprechen Gottes, dass wir Menschen aufgehoben sind in seiner Liebe. Aber auch für Muslime, Juden, Menschen anderen Glaubens und Atheisten ist es ein Fest des Innehaltens,
welches mit Vehemenz in Kaufhäusern und Supermärkten praktiziert wird, ein Fest der Verwandten und Wahlverwandten, ein Fest, das verbindet, wenn Menschen sich besuchen und beschenken – mit schönen Dingen, die sie dann umtauschen gegen noch schönere Dinge, vor allem jedoch mit Zuwendung. Wer keine Zuwendung erfährt und keine schenkt, kann nicht wachsen, nicht blühen. Er meint natürlich Zuwendungen. Und vielleicht auch eher Firmen und Politiker, nicht Menschen.
In der Sprache der Politik heißt das: Solidarität. In der Sprache der Justiz heißt das: Bestechung. In der Sprache des Glaubens: Nächstenliebe. In den Gefühlen der Menschen: Liebe oder Riesensauerei. Und bei einigermaßen klar denkenden Proletariern hieß das auch Solidarität.
Ja, wir wollen ein solidarisches Land. Ein Land, das den Jungen Wege in ein gutes Leben eröffnet, den Mädchen auch ein wenig, und den Alten Raum in unserer Mitte, aber dennoch in eigenen Gebäuden, belässt. In dem die Reichen alles dafür tun, dass die Schere zwischen ihnen und den Armen nicht weiter aufgeht, zum Beispiel, indem sie erstens die Steuern zahlen, die sie müssten und dann noch den Sloterdijkschen Zuschlag. Ein Land, das jene, die seit Generationen hier leben, mit jenen verbindet, die sich erst vor Kurzem hier beheimatet haben.
Kürzlich hat mir eine afrikanische Mutter in einem Flüchtlingswohnheim ihr Baby in den Arm gelegt.
Wenn sie ihn richtig gekannt hätte, wäre sie vorsichtiger gewesen. Zwar werden wir nie alle Menschen aufnehmen können, die kommen. Aber: Verfolgten wollen wir mit offenem Herzen Asyl gewähren und wohlwollend Zuwanderern begegnen, die unser Land braucht. Gerade aber bei diesem Neg…, äh…farbigen Asylspross können wir ja jetzt noch nicht wissen, ob er einmal verfolgt oder für uns nützlich sein wird. Deshalb bekommt ihn auch seine Mutter erst wieder, wenn das geklärt ist.
Bei meinen zahlreichen Begegnungen in den vergangenen Monaten durfte ich etwas sehr Beglückendes erfahren: dass die Zahl der Menschen, die unsere Gegenwart und Zukunft zum Besseren gestalten, weit größer ist als die Zahl der Gleichgültigen. Na ja, wenn alle gleich gültig wären und sich nicht so viele schon als ungültig fühlen würden… Mein Dank gilt deshalb den engagierten Frauen und Männern. Egal, wofür sie sich engagieren. Ihre Tatkraft bestärkt mich – besonders aber stärkt sie unser Land, weil sie es schöner, liebenswerter, menschlicher macht. Beate, Uwe und Uwe sind da aber nicht gemeint, trotz Tatkraft und Engagement!
Der Stern aus der Weihnachtsgeschichte führte Menschen einst von fernher zu einem ganz besonderen Ziel – zu einem Menschenkind. Einen solchen Stern wünsche ich jedem in unserem Land. Einen Stern, der ihn zum Mitmenschen, der uns zueinander führt. Einen Stern für jeden, dass ist doch mal was, da freuen wir uns und Mercedes Benz erst recht!
Mit diesem Wunsch also: gesegnete Weihnachten!
Das ist ein Befehl!