16. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2013

Brüder unterm Sternenzelt

von Wolfgang Brauer

Jörg Magenau hat ein Buch über die Brüder Friedrich Georg („Fritz“) und Ernst Jünger geschrieben. Es ist mehr als eine Biographie. Magenau hat einen großen Essay vorgelegt über die Irrungen und Wirkungen des rechten Flügels des deutschen intellektuellen Konservatismus, als dessen Protagonisten bei aller Verschiedenheit die beiden Jüngers gelten können. Wer wissen will, wie die Verführungskraft rechtskonservativen Denkens auf Teile der heutigen jüngeren akademischen Generation zustande kommt, für den wird dieses Buch manchen Aufschluss bieten. Zumal es – auch das sei eingangs festgestellt – seinerseits literarische Qualität besitzt. Magenaus Sprache ist die intensive Beschäftigung mit Christa Wolf, Martin Walser und den Jüngers anzumerken. Der Qualität des Umganges mit dieser schwierigen Doppelbiographie kommt das zugute. Die Achtung vor dem Wort schützt vor zu schnellem Urteil.
Zumindest bei Ernst Jünger, dem um drei Jahren Älteren der beiden, ist man mit einem solchen schnell bei der Hand. Die Ästhetisierung des Krieges in den „Stahlgewittern“ (1920) und die Hassausbrüche im „Wäldchen 125“ (1924: „Ich hasse die Demokratie wie die Pest“) bildeten einen kräftigen Zustrom jener braunen Melange, die 1933 die absolute Herrschaft im deutschen Geistesleben antrat. Dass beide Brüder am 17. März 1930 im Berliner Beethovensaal unter Mittäterschaft von Arnolt Bronnen und mehreren Dutzend SA-Führern eine Rede Thomas Manns gegen den aufziehenden Faschismus zu verhindern suchten, passt in ihr damaliges Weltbild. Ansonsten war der unmittelbare Krakeel nicht unbedingt ihre Sache, das überließ man gerne anderen. Wobei Fritz, der philosophischere Kopf der beiden, in der rechtsextremen Szene der Weimarer Republik entschieden lautstärker herumtönte als Ernst, dem die braunen Horden offensichtlich aus ästhetischen Gründen wenig behagten. Ein Reichstagsmandat der NSDAP lehnte er zweimal ab. Allerdings tummelten sich beide im Widerstand-Kreis um den auch nicht gerade appetitlich zu nennenden Privatfeind Hitlers Ernst Niekisch. Magenau analysiert sehr genau das Agieren der beiden in diesem sehr breiten Spektrum der faschistischen Strömungen der Weimarer Republik. Er spricht von einem „pittoresken Freundeskreis“.
Wenn der Jünger-Biograph Helmut Kiesel Ernst Jünger unter „die ‚Totengräber’ der Weimarer Republik und die ‚Pioniere’ des ‚Dritten Reiches’“ zählt, so kann der Autor bei allen Relativierungen diese Bewertung nicht entkräften. Allerdings macht er mittels einer klugen Analyse der Schrift Ernst Jüngers „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“ (1932) deutlich, weshalb das Hitlersche „Dritte Reich“ eben nicht das von den Jüngers ersehnte sein konnte. Die dann erfolgende Distanz mancher Protagonisten der „Konservativen Revolution“ – ein Sammelbegriff Armin Mohlers, mit dem dieser nach Kriegsende versuchte, faschistisches Denken salonfähig zu halten – war zwangsläufig. Einige führte es bis in den aktiven Widerstand gegen die Geister, die sie selber riefen. Mohler erwies sich übrigens als unbelehrbar. 1949 wurde er Privatsekretär Ernst Jüngers, 1953 schmiß der Meister den bekennenden Faschisten raus, weil der Sekretär versuchte, den Chef am Abfeilen zu arger rechtsextremer Spitzen an den frühen Schriften zu hindern. Für ihn – wie für Bruder Friedrich Georg waren dies Aggregatzustände, Jugendbefindlichkeiten, die man hinter sich gelassen hatte. Dass man in den ersten Jahren nach 1945 aus sehr praktischen Gründen gut daran tat, Distanz zum „Regime“ zu zeigen, verschweigt Magenau als Beweggrund nicht. Auch wenn Ernst mit sturer Grandezza die „Entnazifizierung“ verweigerte, was ihm für einige Jahre Publikationsverbot bescherte.
Fritz hingegen publizierte, „weniger im Scheinwerferlicht der Berühmtheit stehend“, wieder ab 1946: Fast zeitgleich mit dem Gedichtband „Der Westwind“ erschien sein technikkritischer Essay „Perfektion der Technik“. Ebenso wie die Gedichte nicht als „Bekenntnis zu den Westmächten“ (Magenau) interpretierbar sind, ist die „Perfektion der Technik“ nicht als Aufbruch zu neuen Ufern zu verstehen, sondern entwickelte sich gleichsam in stetem intellektuellen Dialog mit dem Bruder, vor allem mit dessen Essay „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“ (1932).
So verführerisch der Abgleich äußerer biographischer Daten beider – das beginnt mit dem im Verlauf und Ergebnis höchst unterschiedlichen Erlebnis des Ersten Weltkrieges und endet bei Magenau mit dem 1968 beziehungsweise 1969 beinahe zeitgleich erfolgenden Villa-Massimo-Stipendium –, dies ist nicht die eigentliche Entdeckung des Buches. Die archimedischen Punkte der intellektuellen Welt der Brüder Jünger scheinen auf den ersten Blick sehr verschieden, ihre Zielrichtung, so Jörg Magenau, war dieselbe: „Das Majestätische und das Bäuerliche, das Kultivierte und das Natürliche, das Formbewusste und das Organische, das Männliche und das Weibliche: Lassen sich die Brüder in solchen Gegensätzen fassen? Sie selbst sahen das nicht so, sondern empfanden vielmehr den Gleichklang ihres Erlebens. Sie blickten doppelt auf die Welt, nicht im Widerspruch zueinander, sondern gewissermaßen räumlich, in einer stereoskopischen Existenz, so wie sie in der Kindheit nebeneinander im Gleichtakt in einem Buch gelesen hatten.“
Im Herausarbeiten dieser stereoskopischen Existenz besteht die Leistung Magenaus. Die Daten beider Biographien lassen sich woanders leichter erschließen. Übrigens bekräftigte Friedrich Georg Jünger selbst in einem Brief an Clemens Graf Podewils, Generalsekretär der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in den neunzehnhundertfünfziger Jahren die Sinnhaltigkeit einer solchen Sicht auf ihn und den Bruder: „Das Trennen und Spalten ist leichter als das Auffinden des Gemeinsamen.“ Selbst die Arbeitsfelder führten zu Kongruenzen. Ernst verlegte sich zeitweise auf das Studium der Abgründe des menschlichen Inneren im Drogen-Selbstversuch unter ärztlicher Begleitung. Was Magenau in diesem Zusammenhang über die Wirkungsmacht von Literatur berichtet, ist anekdotenreif:  1970 veröffentlichte Jünger den Essay „Annäherungen. Drogen und Rausch“ – und hatte prompt die Staatsanwaltschaft wegen „unerlaubtem Drogenbesitzes“ auf dem Hals.
Fritz hingegen, so der Autor, „beklagte Flurbereinigungen und Flussbegradigungen, die Verschmutzung der Luft und der Gewässer und das Veralgen der Seen, die Verwendung von Kunstdünger und Pestiziden, Wegwerfwahn und Plastikmüll und warnte vor den Gefahren der Radioaktivität.“ Für F.G. Jünger mutierte das Fortschrittsdenken zunehmend zur größten Gefahr: Der 1969 erschienene Essay „Die vollkommene Schöpfung. Natur oder Wissenschaft“ wurde so zu einer Art Geburtsurkunde konservativen ökologischen Denkens – wenn er denn von der Öffentlichkeit wahrgenommen worden wäre. Auch die von ihm 1971 mitbegründete Jahresschrift für skeptisches Denken Scheidewege machte ihn nicht bekannter. Bei aller Deckungsgleichheit einzelner deskriptiver Ansätze –anknüpfen konnte  (und wollte angesichts der historischen Belastung des Namens Jünger) die sich neu formierende bundesdeutsche Linke an solche Überlegungen nicht. Eine Kapitalismuskritik, die – wie in den Scheidewegen – eher auf Novalis denn Karl Marx fußte, war in deren Augen schlichtweg nicht satisfaktionsfähig. Jörg Magenaus Diskurs über die unmögliche Möglichkeit einer Annäherung beider Positionen gehört zu den spannendsten Abschnitten seines Buches. Am 20. Juli 1977 starb Friedrich Georg Jünger in Überlingen.
Sein Bruder Ernst überlebte ihn um über 20 Jahre. Das fünfbändige Tagebuch-Opus „Siebzig verweht“ (1980 bis 1997) krönt ein Lebenswerk, dem man sich vielfach nur mit Schaudern nähern kann, das dennoch Respekt abnötigt und die Auseinandersetzung lohnt. Dass er am Ende seines Lebens gleichsam bundesdeutschen Denkmalsstatus zugebilligt bekam, wird ihn im tiefsten Inneren eher amüsiert haben. Diese Republik war ebenso wenig wie die Weimarer nicht die seine. „Aus der Geschichte, der deutschen zumal, hatte Ernst sich verabschiedet. Das Nationale berührte ihn nicht mehr“, schreibt Magenau. Die Ereignisse der Äußerlichkeit waren Ernst Jünger nun wie seinerzeit die an der Westfront von den Balken der Bunkerdecken herabpurzelnden Käfer: Sie wurden aufgespießt und wohlsortiert der Sammlung hinzugefügt. „Subtile Jagden“ nannte er einen 1967 erschienenen Essay.
Friedrich Georg und Ernst Jünger hatten das Böse beschworen und das Böse kam und stieß sie ab. Im doppelten Sinne des Wortes. Man sollte die Brüder kennen. Sie sind Geschichte, aber immer noch von einer Wirkungsmächtigkeit, die nicht zu unterschätzen ist. Jörg Magenau hat ein wichtiges und atemberaubendes Buch geschrieben.

Jörg Magenau: Brüder unterm Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger. Eine Biographie, Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 320 Seiten, 22,95 Euro