15. Jahrgang | Nummer 25 | 10. Dezember 2012

Zur Erinnerung an Fritz Houtermans

von Helmut Abel

Max Planck, Albert Einstein, Max von Laue, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger, Max Born, James Franck oder Gustav Hertz bedürfen keiner besonderen Anlässe, um an sie zu erinnern. Sie prägten das physikalische Weltbild des zwanzigsten Jahrhunderts, und ihre Leistungen wurden mit Nobelpreisen gewürdigt. Anders ist es mit Fritz Houtermans. Auch er ein Physiker dieser Zeit, ein herausragendes Talent unter den Jüngeren, Schüler von James Franck, Max Born und Gustav Hertz. An Houtermans zu erinnern ergibt sich aus der Geschichte der quantenphysikalischen Strukturaufklärung von Atomkernen. Der Name Houtermans ist mit diesen Entwicklungen eng verknüpft.
Fritz Houtermans, schreibt sein Freund Otto Robert Frisch 1981, „war ein Einzelgänger, der den verdienten Erfolg niemals erreichte”. Helga Königsdorf fragt in ihrem Buch (1989) „Respektloser Umgang“ (1989), „welchen Weg hätte die Geschichte eingeschlagen, wäre der aus Deutschland emigrierte Houtermans nicht unter Stalin der Sabotage und Spionage verdächtigt worden?” Einen Einzelgänger im Sinne von „scheuer Mensch“ hatte Frisch nicht gemeint. Regelmäßig traf sich sein nicht kleiner Freundeskreis bei ihm während seiner Berliner Zeit (1928-1933) zur „Kleinen Nachtphysik“, angezogen durch seinen Ideenreichtum und seinen Humor. Das Charaktermerkmal „Einzelgänger“ trifft nur auf sein Interesse an gesellschaftspolitischen Vorgängen zu. Gegen den aufkommenden Faschismus in Deutschland leistete er aktiven Widerstand.
Sein Interesse an gesellschaftspolitischen Fragen entwickelte er schon als Schüler. Als Sechzehnjähriger wurde er 1919 in Wien vom Akademischen Gymnasium verwiesen, weil er im Foyer am 1. Mai aus dem „Kommunistischen Manifest“ rezitierte. Diese Neigungen wurden nur übertroffen von seiner Begeisterung für Physik und Mathematik. Sie führte ihn ab 1921 zum Studium dieser Fächer nach Göttingen. Unter Betreuung von James Franck erwarb Houtermans 1926 sein Diplom und betreut von Max Born 1927 den Doktortitel. In Göttingen traf sich zu dieser Zeit ein Kreis von jungen Physikern aus vielen Ländern, die an der Entstehung eines neuen Weltbildes der Physik hohen Anteil gewinnen sollten. Sie diskutierten nicht ausschließlich über ihre wissenschaftlichen Interessen, sondern auch über gesellschaftspolitische Fragen und Ideen, tolerierten Houtermans Hinwendung zur KPD, der er 1927 beitrat.
Bevor Fritz Houtermans nach Berlin ging, drängte er den russischen Physiker Georg Gamow, der aus Leningrad nach Göttingen gekommen war, dessen Theorie der Emission von Alpha-Teilchen aus radioaktiven Kernen zu präzisieren. Die gemeinsame Arbeit erschien 1928 und leitete die Erfolgsgeschichte seines wissenschaftlichen Lebens ein. Er wechselte 1928 aus Göttingen nach Berlin an die Technische Hochschule, wurde Assistent und Oberassistent bei Gustav Hertz. Houtermans traf dort wieder auf außergewöhnlich begabte junge Physiker, unter ihnen auf den ebenfalls von Göttingen nach Berlin gewechselten englischen Physiker Robert d’E Atkinson. Beiden gelang ein Durchbruch in der Weiterentwicklung der Quantentheorie und ihrer Anwendung auf kernphysikalische Fragestellungen. Hatte Rutherford 1923 „nur“ die Vermutung äußern können, dass Kernfusionen die Energiequellen der Sonne sind, konnten Houtermans und d’E Atkinson eine quantenphysikalische Bestätigung liefern. Diese Arbeit von Fritz Houtermans und Robert d’E Atkinson war der Start der Kernfusionsforschung in eine nun schon über achtzigjährige Geschichte.
Mit dem Jahr 1933 stoppte zunächst Houtermans wissenschaftliche Karriere. Juden und „politisch Unzuverlässige“, er gehörte zu beiden Gruppen, wurden von den Hochschulen und aus allen staatlichen Einrichtungen vertrieben. Er wechselt aus der Wissenschaft in den aktiven Widerstand gegen den Faschismus. Mit Unterstützung des Physik-Nobelpreisträgers Max von Laue gelang es ihm, für jüdische Kollegen und Studenten Kontakte und Beschäftigungsmöglichkeiten im Ausland zu knüpfen. Er selbst konnte der drohenden Verhaftung nur durch Emigration nach England ausweichen. In England setzte er seine Hilfsaktionen für in Deutschland bedrohte Freunde und Kollegen fort, gemeinsam mit seinem ebenfalls nach England emigrierten Freund Fritz Lange, mit dem er sich sowohl politisch als auch wissenschaftlich eng verbunden fühlte. Ähnlich wie schon in Berlin wurde Houtermans England-Domizil zum Physiker-Treffzentrum.
Ihn und Fritz Lange erreichten Einladungen aus dem 1927 in der Ukraine, in Charkow, aufgebauten Institut für Technische Physik. Ihnen wurde angeboten, am Aufbau einer neu entstehenden Abteilung für Kernforschung mitzuwirken. 1935 wechselten beide nach Charkow und trafen dort auf ihnen und international schon gut bekannte Physiker wie Lev Landau, Axel Weissberg und Igor W. Kurtschatow. Charkow wurde zu einem Zentrum der sowjetischen Kernforschung mit einem international bekannten und hochbegabten Forscherteam.
Houtermans beschäftigte sich hier mit theoretischen Studien über Neutronenwechselwirkungen mit leichten und schweren Atomkernen, Fritz Lange widmete sich der Hochspannungsphysik und der Entwicklung von Verfahren zur Isotopentrennung. Die Bedeutung dieser Forschungsrichtungen erhöhte sich schlagartig nach der Entdeckung der Urankernspaltung durch Otto Hahn 1938 in Berlin. Sie löste blitzartig Spekulationen aus, denen Houtermans schon Jahre zuvor sehr nahe gekommen war. Sie verliefen in zwei Richtungen: Zum einen durch gesteuerte Kettenreaktionen von Urankernspaltungen in Reaktoren eine neue und gewaltige Energiequelle gewinnen zu können und zum anderen Kettenreaktionen von Kernspaltungen explosiv ablaufen zu lassen, das heißt atomare Bomben konstruieren zu können.
1939 unterschrieb Albert Einstein einen von Leo Szillard entworfenen Brief an den Präsidenten der USA, in dem auf derartige nukleare Gefahren aufmerksam gemacht wurde. In Charkow verfassten Fritz Lange und sowjetische Kollegen 1940 an die Regierung der UdSSR eine ähnliche Warnung. In den USA wurde Robert Oppenheimer wissenschaftlicher Leiter des Atombombenprojektes in Los Alamos, in der UdSSR wurde die gleiche Aufgabe Kurtschatow übertragen. Beide gehörten zum Freundeskreis von Houtermans. Wie Houtermans hatten auch viele seiner Kollegen in Charkow enge freundschaftliche Beziehungen zu Physikern weltweit. Ihnen Spionage zu unterstellen war so einfach wie dumm. Houtermans und eine Reihe seiner Kollegen wurden 1937 in Charkow verhaftet. Es folgten für ihn Jahre in Lagerhaft. Im Rahmen des Stalin-Hitler-Paktes wurde er 1940 nach Deutschland ausgeliefert und dort von der Gestapo sofort wieder verhaftet.
Dieses Geschehen führte Helga Königsdorf zu der eingangs zitierten Frage, welchen Weg die Geschichte (der atomaren Rüstung) hätte einschlagen können, wäre Houtermans nicht ein Opfer der Stalinschen „Säuberung“ geworden. Houtermans Ideenreichtum und die Konzentration herausragender Kern-Physiker im Charkow-Institut war eine geradezu ideale Voraussetzung für den Start in anwendungsorientierte Forschungen der oben genannten spekulativen Richtungen.
Von Houtermans Gestapo-Haft erfuhr sein Berliner Freund, der Physiker Robert Rompe. Er wandte sich an Max von Laue, der sein Ansehen als Nobelpreisträger und seinen Einfluss einsetzte und Houtermans Freilassung bewirken konnte.
Manfred von Ardenne nahm ihn in seinem privaten Laboratorium auf und Houtermans setzte seine in Charkow begonnenen theoretischen kernphysikalischen Forschungen fort. Bereits 1941 fasste er seine Ergebnisse in einem Bericht „Zur Frage der Auslösung von Kernkettenreaktionen“ zusammen, in dem er die theoretische Voraussage begründen konnte, dass Plutonium 239 gut spaltbar sein müsse und erhebliche Vorteile gegenüber dem Uranisotop U 235 bieten sollte. Am gleichen Thema, Kernspaltungskettenreaktionen, wurde im so genannten Uran-Verein in Nazi-Deutschland von führenden Physikern wie Werner Heisenberg und Karl Friedrich von Weizsäcker gearbeitet. Ihre Ergebnisse führten jedoch nicht zu der von Houtermans erkannten Bedeutung des Plutoniums. Houtermans musste Heisenberg und Weizsäcker in Gesprächen über seine Ergebnisse informieren. Doch sie kamen überein, sie nicht weiterzuleiten. Die Gründe für dieses Verhalten waren sicher sehr unterschiedlich. Houtermans wollte die Arbeit des Uran-Vereins nicht beschleunigen helfen. Heisenberg und Weizsäcker befürchteten bei Weiterleitung des Berichtes unter Druck zu geraten und hielten den Bericht zurück. Er wurde nie erwähnt, auch nicht im Nachkriegsbericht Werner Heisenbergs über die Arbeiten des Uran-Vereins.
Im Oktober 1941 wurde nach Besetzung der Ukraine durch deutsche Truppen eine Wehrmachtsdelegation mit Wissenschaftlern nach Charkow entsandt, um den Zustand der Forschungseinrichtungen einzuschätzen und wissenschaftliche Geräte nach Deutschland zu holen. Houtermans, der dieser Wissenschaftlergruppe zugeordnet war, nutzte diese Gelegenheit, seine Charkower Freunde und ehemaligen Kollegen zu schützen.
Nach dem Kriege, von 1945 bis 1951, arbeitete Fritz Houtermans in Instituten der Universität Göttingen. Dorthin war 1946 ein Teil der Physik-Eliten des Uran-Vereins verpflichtet worden, um sie Zugriffen aus der UdSSR zu entziehen.
Im Januar 1952 erhielt Fritz Houtermans einen Ruf als Ordinarius für Physik an die Universität Bern. Er begründete dort die „Berner Schule“ für die Anwendung von Isotopen in den Geowissenschaften, der Astrophysik sowie der Kosmochemie. Sie wurde zu einem berühmten internationalen Zentrum dieser Forschungsrichtungen. Im März 1966 starb Fritz Houtermans an Lungenkrebs. 1973 gab die Internationale Astronomische Union einem Mondkrater den Namen Houtermans.

Prof. Dr. Helmut Abel ist Biophysiker und Mitglied der Leibniz-Sozietät Berlin.