15. Jahrgang | Nummer 26 | 24. Dezember 2012

… fröööhliche Zeit! Ein kurzer sentimentaler Ausbruch

von Eckhard Mieder

Ich liebe Weihnachten. Aber etwas ist anders in diesem Jahr. Meine Sentimentalität steigert sich ins Grotesk-Unfassbare: Ich bin in diesen Tagen so maßlos traurig, dass ich mich selber kaum begreife. Bin ich doch sonst durchaus willens und sogar fähig, die Weihnachtszeit als eine fröhliche Zeit zu genießen.
Ich hörte, sah und las von den Machenschaften der Deutschen Bank, vom Niedergang Opels in Bochum, vom Amoklauf in Newtown – und plötzlich schnürte sich mit der Hals zu, als würgte mich jenes Grotesk-Unfassbare: das da umgeht wie ein Gespenst, aber real ist, so real, wie es Destruktionen nun mal sind.
Beinahe weinte ich. Warum das alles? Warum, warum diese Gier nach Geld, warum diese Ohnmacht, warum diese Gewalt?
Der Kontrolleur und Analyst in mir, nölt: Du kannst nicht alles durcheinander mengen. Du musst säuberlich trennen, das eine ist nicht das andere, es sei, du findest ein gemeinsames Drittes. Und selbst dann bleiben die einzelnen Geschehnisse noch speziell. (Ja, ja, ja. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann kauen die Hin- und Her-Nachdenker in Ewigkeit an Spekulatius und an Spekulationen.)
Was das alles soll, woraus das rührt, als wüsstest du nicht einigermaßen Bescheid über den Kapitalismus. Stell dich doch nicht blöder, als du bist! So der Rationalist in mir.
Aber ich war plötzlich verzweifelt, wie gelähmt, angeknockt von des Tages Nachrichten. Die Weihnachtszeit weicht mich in diesem Jahr dermaßen auf …
Und meine Verzweiflung und die Fragen sind mir vor mir selbst peinlich. Schließlich gibt es ökonomische, philosophische, kulturelle, religiöse und sonstige Antworten zuhauf.
Dass nun mal das Geld die Welt regiert.
Dass es nun mal der Kapitalismus möglichst jeden Menschen zum Kapitalisten macht. Damit wird er dann leibhaftig zum Roboter in der allgemeinen Roboterei und zum Räuber in der allgemeinen Robbery. In jener Maschinerie, die  sich an sich selbst entzückt, die sich selbst frisst und die sich vor dem Spiegel Kusshändchen zuwirft. Dreh noch eine anmutige Pirouette, Egoist, bevor du tot wie ein Geldschein bist! …
Dass der Mensch sowieso des Menschen Lupus ist, und mit der Lupe zu suchen sei Altruismus, auch wenn sich die Spenden- und Besondere-Menschen-des-Jahres-Sendungen im Fernsehen prompt wieder häufen und jubelnde Moderatoren verkünden, dass jetzt! jetzt! die Zwei-Millionen-Euro-Marke geknackt sei.
Dass der Mensch als Madensack auf die Welt komme und …
Ja, all diese Antworten gibt es. Und doch: Was helfen sie mir gegen dieses plötzliche Wehgefühl, das mich befällt?
Voller Traurigkeit sitze ich da. Was hat denn der gierige Mensch um des Himmels willen von diesem Mehr und Mehr und Mehr? Noch eine Immobilie? Noch ein Auto? Noch ein Schiff? Noch ein Mord und noch ein Untergang?
Oder ein noch größeres Auto, ein noch größeres Haus, ein noch größeres Schiff? Oder ein Massenmord oder eine Massenentlassung?
Oder will er seine Freundinnen respektive seinen Freund in Diamanten baden lassen? Will er ihr oder ihm aus Geldscheinen Sweatshirts schneidern lassen? Oder zählt das Leben eines Kindes gar nichts? Und wenn da auch ein Psychopath zugange war in den USA (nächstes Jahr wird’s wieder einer in Deutschland sein, oder übernächstes Jahr), ein Autist oder ein sonst wie Durchgeknallter – wie viele Kinder sterben minütlich und anonym und normal an Hunger, an Umweltgiften, in kriegerischen Schlachtfesten? Wohin gehen am Abend, wenn die Firma die Schotten dicht macht, die Proleten, die nicht mehr Proleten heißen, sondern Siedler am unteren Rand des Mittelstandes sind?
Will er sich ein Zweitflugzeug zulegen oder sich an Austern vergiften oder solange Champagner trinken, bis die 12, 13, 14 Liter Blut, die ihn durchströmen vom schäumenden Getränke ersetzt sind? Wollte sich der Mörder Aufmerksamkeit verschaffen oder eine perverse Phantasie ausleben?
Was, zum Geier, haben wir von dieser Hatz, von dieser Gier, von diesem mörderischen Umgang mit uns selbst?