15. Jahrgang | Nummer 23 | 12. November 2012

Place Plumereau, Dienstagmittag

von Renate Hoffmann

Die französische Stadt Tours wartet mit drei Überraschungen auf (selbstredend hält sie noch weitere bereit): Mit dem römischen Offizier Martinus, der zum Christentum wechselte, Bischof von Tours und Schutzpatron der fränkischen Könige wurde; doch er lebt schon lange nicht mehr. Mit Honoré de Balzac, dem berühmten Romancier und Sohn der Stadt. Auch er ist schon eine Weile tot. Und mit der Place Plumereau. Sie aber lebt – obwohl hochbetagt.
Die Altstadt um den „Großen Markt“ hatte sich als Viertel der Gewerbetreibenden und Händler herausgebildet, die insbesondere den Pilgerscharen ihre Geschäfte verdankten. Immerhin ruhten – und ruhen – die sterblichen Überreste des verehrten Heiligen Martin unweit in seiner Basilika und versprachen Zeichen und Wunder.
Den alten Platz umstehen nun überwiegend Fachwerkbauten aus dem 15. bis 17. Jahrhundert, sorgfältig saniert und restauriert im 20. Jahrhundert. Sie blicken leicht verstört auf das quirlige Treiben zu ihren Füßen. Denn die Place Plumereau ist ein einziges großes, amüsantes, lebhaft begangenes, vielsprachiges, attraktives, gastfreies Café.
Von der Cathedrale Saint Gatien (Balzac wählte sie zum Schauplatz seiner Erzählung Der Pfarrer von Tours), deren Glasfenster in ihrer unvergleichlichen Leuchtkraft verstummen lassen, gehe ich mit eigennützigen Absichten zur Basilika des Heiligen Martin. Er war nicht nur Schutzpatron von Frankreichs Königen, sondern auch der der Reisenden. Ich hoffe, letzteres gilt noch. Und ein Stoßgebet kann ja nicht schaden.
Auf der Place Plumereau unter der Herbstsonne wuselt, wirbelt, wogt das Mittagsgetriebe. Der Garçon vom „Au Temps des Rois“ schiebt resolut einen jungen Mann samt seinem Espresso zur Seite, um mir einen guten Platz mit hohem Schauwert für das Defilee einzuräumen. Vor den Restaurants, Bars, Cafés sind die Sitzmöbel besetzt. Bestellungen schwirren. Eilige Bedienstete balancieren ihre Tabletts wagemutig über den Köpfen der Gäste oder winden sich zwischen Stühlen hindurch oder weichen tollenden Hunden aus. Eine Spatzenwolke stiebt auf und verschwindet zeternd im Blätterwerk der immergrünen Magnolien. Duft nach heißer Schokolade und Kaffee zieht vorüber. Und würziger Zigarrenrauch. „Pardon, Madame“, sagt der Nachbar und versucht, dem blauen Dunst eine andere Richtung zu geben. – Die Szenerie ist buntgewürfelt, vergnüglich, tragikomisch und trägt den Abglanz eines kleinen Welttheaters.
Die Grandmere schaukelt mit dem Fuß ihren schreienden Enkel im Wagen, sie braucht beide Hände für ein lebhaft geführtes Gespräch. Unter den Tischen sucht ein Cocker Spaniel verwirrt seinen Herrn. Dort drüben diskutiert ein junges Paar heftig miteinander – es sieht nicht nach Liebe aus. Touristen, behängt mit Fotoapparaten; schöne Frauen, denen die Blicke der Männer folgen; füllige Frauen, denen die Blicke der Männer nicht folgen. Musik tönt aus der kleinen Bar hinter mir. Ein Vater spielt laut bellend mit seinem Sohn „Hund“. Der Sohn führt den Vater an der Leine. Am Tisch zu meiner Linken sitzen Studenten und vergleichen beim Espresso die Vorlesungsmitschriften. Es wird gelacht, gestritten, geküsst.
Über den gedämpften Geräuschwellen des Platzes steigen hin und wieder Lachsalven auf. Sie gleichen roten Luftballons, denen man gern nachsieht. Gemessenen Schrittes läuft eine überschlanke Dame zur Schau. Zwei Greyhounds, so schlank wie sie, vervollständigen den Auftritt. Es scheint, als sei die Elegante soeben dem Glanz- und Pranz-Magazin, Seite drei entstiegen. Ihr Anblick ist vollkommen.
An der Längsseite des Platzes sucht ein älteres Ehepaar nach freien Stühlen. Sie sind gefunden, und aus dem Dunkel der großen Tragetasche wird ein Malteser Hündchen mit rosafarbener Schleife herausgehoben und auf den Tisch gesetzt. Niemand nimmt Anstoß daran. Vorgelegte Leckerbissen verschmäht der reinrassige Edle. Auch gutes Zureden hilft nicht. Vielleicht versteht er nur Maltesisch?
Inmitten des Touristengewimmels zeigt ein Hochradfahrer seine Künste. Schnell finden sich Schaulustige ein und spenden ihm verdienten Beifall. Ich bestelle den zweiten Cappuccino und sammle die stetig wechselnden Bilder wie Teile für ein Puzzlespiel. Im Schaufenster der Confiserie nebenan schmelzen die Pralinen still in der Sonne. Und am Mittagshimmel schwimmen gemächlich dickbauchige Wolkenschiffe.
Wenn es wirklich stimmt, dass Gott in Frankreich webt und schwebt, so kann es nur hier auf diesem Platze sein, dem schönsten in der Touraine.