15. Jahrgang | Nummer 23 | 12. November 2012

Flieger, grüß mir die Sonne und die Waterkant

von Kai Agthe

„Flieger, grüß mir die Sterne, grüß mir die Sonne und grüß mir den Mond“, sang Hans Albers 1932 im Fliegerfilm „F.P. 1 antwortet nicht mehr“. Aus dem Stück machte die Band Extrabreit im Jahr 1980 einen Hit der Neuen Deutschen Welle. Nach der Lektüre des Buches von Kathrin Möller – die als Projektleiterin am Ausstellungs- und Bildungszentrum „Phantechnikum“ in Wismar tätig ist – müsste der Pilot aus dem Schlager auch die Ostseeküste grüßen. Denn die Autorin porträtiert in „Lilienthal, Fokker & Co.“ die spannendsten Kapitel aus der Luftfahrtgeschichte im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Dass man eine Geschichte der Fliegerei an der Ostseeküste schreiben kann, dürfte auch jene Leser überraschen, die wissen, dass der Flugpionier Otto Lilienthal aus Anklam stammte und die erste (Sprengstoff-)Rakete in Peenemünde auf Usedom gezündet wurde.
Die Luftfahrthistorie zwischen Neustadt-Glewe und Rostock, Ribnitz und Greifswald hat aber noch viel mehr Wissenswertes zu bieten. Angefangen hatte das bemannte Flugwesen an der „Waterkant“ bezeichnenderweise mit einer Frau: 1819 stieg Wilhelmine Reichard in Doberan mit einem Ballon auf und zeigte, wie eine Zeitung zu berichten wusste, auf der Fahrt „viel Grazie und Kaltblütigkeit“. Nach 1900 kamen zu den Piloten auch die Konstrukteure: August von Parseval etwa, der in Plau am See Prallluftschiffe und Flugboote entwarf. Doch zur Serienreife gelangten seine Entwicklungen nicht. 1911 gab Parseval auf. Es kamen andere Ingenieure in den Norden, die erfolgreicher waren.
Der niederländische Konstrukteur und Unternehmer Anthony Fokker etwa fertigte im Ersten Weltkrieg Kampfflugzeuge in Schwerin. Zu seinem berühmtesten Flieger avancierte mit der Dr I jener wendige Dreifachdecker, der in roter Lackierung dem wegen seiner hohen Abschussquote bekannten Piloten Manfred von Richthofen den Titel „Der rote Baron“ einbrachte. Ein Nachbau des Luftfahrzeugs ist heute im „Phantechnikum“ in Wismar zu sehen. Nach dem Ersten Weltkrieg zog die Firma Fokker, die bis 1996 mittelgroße Passagierjets herstellte, in die Niederlande und die USA.
Ein genialer Tüftler war auch Hans Seehase aus Warnemünde, der einen Hochdecker konstruierte, mit einem Fallschirm aus der Ebene aufstieg und auch als der erste Drachengleitschirmflieger gilt. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog er sich zurück und stellte in seinem Betrieb Rechenschieber her.
Erfolgreicher war da Ernst Heinkel, der in Rostock produzierte. Ihm zur Seite standen mit Walter und Siegfried Günter zwei innovative Ingenieure, die mit der He 70 das erste europäische Flugzeug mit einziehbarem Fahrwerk und einer Reisegeschwindigkeit von über 300 km/h entwickelten. Auch der erste Düsenjet war eine Entwicklung der Firma Heinkel. Die He 138 kam aber über das Versuchsstadium nicht hinaus. Für Hitlers Weltkrieg waren die Jagdflugzeuge der Heinkel-Werke so unverzichtbar wie die Militärflieger von Dornier. Das Unternehmen vom Bodensee baute von 1933 bis 1945 an der Ostseeküste Flugzeuge, weil Hitlers Marine Interesse an Wasserflugzeugen und Flugbooten hatte. Sowohl Heinkel als auch Dornier ließen KZ-Häftlinge für sich schuften.
Trotz einzelner Unterbrechungen im Zweiten Weltkrieg und zu DDR-Zeiten können bald 100 Jahre Flugverkehr zu den Ostseebädern gefeiert werden. Der begann im Jahr 1918. Ein abgeschlossenes Kapitel ist der Agrarflug, der nach 1920 begann und in der DDR gerade in den Nordbezirken weit verbreitet war. Die „Düngerstreuer“ kann man heute noch in Technikmuseen bestaunen: Neben der orangenen LET Z-37 „Čmelák“ aus Tschechien auch die gelbe PLZ M-18A Dromedar aus Polen.
Mit ihrem ebenso kenntnisreichen wie kurzweiligen Buch füllt Kathrin Möller nicht nur eine Lücke in der regionalen Verkehrsgeschichtsschreibung, sondern sie zeigt auch, dass die Luftfahrttechnik ihren Pionieren aus Mecklenburg-Vorpommern viel verdankt – im Guten wie im Schlechten.

Kathrin Möller: Lilienthal, Fokker & Co. Fliegerei an der deutschen Ostseeküste. Hinstorff-Verlag, Rostock 2012, 141 S., 14,99 Euro