15. Jahrgang | Nummer 24 | 26. November 2012

Auf Ersuchen Brünings vernichtet

von Robert M. W. Kempner

[…] Trotz all dieser, geradezu entmutigenden Signale, unternahm der preußische Ministerpräsident Otto Braun am 4. März 1932 nochmals beim Reichskanzler Brüning einen Vorstoß zur Rettung der Weimarer Republik vor einem befürchteten Regime Adolf Hitlers. Die politische Polizei Preußens hatte neue Erfahrungen mit den Nationalsozialisten seit ihrem letzten Vorstoß im Jahr 1930 gesammelt. Diese bezogen sich in starkem Maße auf die paramilitärischen Einrichtungen der Partei und deren staatsfeindliche Ziele. Eine ausführliche Denkschrift von 236 Seiten bewies die republikfeindliche, staatsgefährdende und dem Strafgesetzbuch zuwiderlaufende Tätigkeit der NSDAP. Diese Denkschrift zerfiel in folgende fünf Teile: Das politische Ziel der NSDAP; die Entwicklung der NSDAP bis zum Ersten des Jahres 1929; die Entwicklung der NSDAP seit 1930; die SA und SS der NSDAP; Gesamtergebnis. Die Denkschrift wurde über das Preußische Innenministerium an den Reichskanzler Heinrich Brüning mit dem Vermerk „Eigenhändig“ weitergeleitet. Ihr war moralisch vernichtendes Material über den SA-Führer Ernst Röhm beigefügt. Dieses sollte an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg weitergeleitet werden. Ich erhielt eine Kopie des von Ministerpräsident Braun unterschriebenen Begleitschreibens von dem Ministerialrat Fritz Corsing vom Preußischen Staatsministerium, da ich zu verschiedenen Problemen der anliegenden Denkschrift befragt worden war.(…) In Preußen erwartete  man mit Spannung eine Antwort auf die energischen Vorstellungen bei der Reichsregierung. Sie kam jedoch niemals. Dies war nicht völlig unerwartet.
Reichskanzler Brüning und von ihm beauftragte Mittelspersonen hatten nämlich bereits seit längerer Zeit Kontakte mit Hitler und anderen führenden Angehörigen der NSDAP aufgenommen. Ministerpräsident Braun war darüber nur teilweise von der Reichskanzlei informiert worden. Die meisten Besprechungen fanden im Geheimen statt. Nationalsozialistische Besucher in der Reichskanzlei kamen unter Tarnnamen zu diesen Besprechungen. Trotzdem hatte die preußische Polizei durch telefonische Abhörmaßnahmen des Reichswehrministeriums davon Wind bekommen. Brüning war der völlig verfehlten Meinung, er könne durch Aussprachen mit den Nationalsozialisten das politische Klima für die Reichpräsidentenwahl und die Landtagswahlen in Hessen beruhigen. Er hatte einfach nicht begriffen, daß mit dem hochverräterischen Hitler und der terroristischen NSDAP ohne politische Selbstpreisgabe überhaupt nicht verhandelt werden konnte. Deshalb blieben Annäherungsversuche an die NSDAP auch erfolglos. Seinen großen politischen Irrtum hat Brüning mir auch bei unserer (…) späteren Zusammenkunft in den USA zugegeben.
Vierzig Jahre später fand ich einen schriftlichen Vermerk über die Behandlung der preußischen Denkschrift vom 4. 3. 1932 in den Akten der Reichsregierung. Durch die Freundlichkeit des Bundesarchivs in Koblenz hatte ich Gelegenheit, das Originalschreiben des Ministerpräsidenten Braun an Brüning einzusehen. Das Rätsel der Nichtbeantwortung des preußischen Antrags mit dem Ziel, die NSDAP zu verbieten, ist ein handschriftlicher Vermerk auf dem Originalbrief von Otto Braun. Der frühere Mitarbeiter Brünings, und seit dem 2. Juni Staatssekretär in der 3 Tage alten Regierung des neuen Reichskanzlers Franz von Papen, Erwin Planck, hat vermerkt: Der Herr Reichskanzler Brüning wünscht keine Antwort auf das Schreiben des Ministerpräsidenten Braun vom 4. März 1932. Einen Teil der Anlagen habe ich auf Ersuchen Brünings vernichtet.
[…]

Auszug aus der von Robert M. W. Kempner verfaßten Einführung zu dem von ihm herausgegebenen Buch „Der verpaßte Nazi-Stopp. Die NSDAP als staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung. Preußische Denkschrift von 1930“. Das Buch aus dem Ullstein-Verlag ist antiquarisch zu erwerben.

Der 1899 in Freiburg/Breisgau geborene Jurist Robert M. W. Kempner war als Justitiar im Preußischen Innenministerium tätig, wo er auch aktiv bei der Abfassung der erwähnten Denkschrift tätig war.1933 von den Nazis wegen „politischer Unzuverlässigkeit in Tateinheit mit fortgesetztem Judentum”  aus dem Staatsdienst entlassen und 1935 zeitweise in Haft. Kempner floh über Italien in die USA. 1945/46 war er stellvertretender Hauptankläger der Vereinigten Staaten beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher.