15. Jahrgang | Sonderausgabe | 22. Oktober 2012

Wirtschaftswissenschaftliche Lehre und Forschung zwischen Ost und West.
Ein persönliches Statement 20 Jahre „danach“

von Norbert Peche

Es ist also die Aufgabe der Geschichte,
nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist,
die Wahrheit des Diesseits zu etablieren.
Karl Marx

Jegliche Bewertung hängt von dem Maßstab ab, mit dem gemessen wird. Ich bin kein Historiker, und ich hatte nach der Wende auch nur selten Gelegenheit, mich mit Forschung zu beschäftigen.
Aber der Zufall hat mich die Gesellschaft und die Wirtschaft der BRD in einer unternehmensberatenden Tätigkeit besser kennenlernen lassen, als das vom Elfenbeinturm der Akademieforschung für die DDR möglich war. Zudem habe ich an vier Universitäten und Hochschulen der Bundesrepublik mit zwei Berufungen gearbeitet und kann einigermaßen abschätzen, was dort vorgeht. Aber für die Bewertungen muss festgehalten werden – meine Bemerkungen sind subjektive, sehr persönliche Sichtweisen, die gar nicht erst den Versuch unternehmen, wissenschaftlich begründet für die Allgemeinheit zu urteilen.
Wenn ich mir also zuerst die Frage vorlege, was die studentische Lehre an der Hochschule für Ökonomie (HfÖ) taugte (ich habe dort 1972 mein Diplom gemacht), und was die Hochschulbildung im Vergleich dazu heute leistet, komme ich in aller notwendigen Verknappung zu zwei möglicherweise überraschenden Ergebnissen.
Die erste Feststellung:
Ich kenne den Lebensweg vieler meiner Mitstudentinnen und Mitstudenten an der HfÖ und niemand, wirklich niemand, ist längere Zeit arbeitslos gewesen – das Schicksal von Millionen DDR-Bürgerinnen und Bürgern nach der Wende. Nach der gängigen (westdeutschen) Vorstellung müsste sich das für die Planwirtschaft der DDR und ihre herrschende Ideologie angehäufte Wissen doch sofort mit der Übernahme der westdeutschen Marktverhältnisse total entwertet haben, und die Trägerinnen und Träger dieses Wissens hätten auf dem Arbeitsmarkt als „nicht verwendungsfähig“ aussortiert werden müssen. Stattdessen reüssierten sie in Verwaltungen und Unternehmen oder als selbstständige Unternehmerinnen und Unternehmer. Wenn auch das Stigma einer DDR-Prägung in den allermeisten Fällen eine wirkliche Spitzenkarriere verhinderte, sind sie doch heute geschätzte Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter und anerkannte Führungskräfte.
Von uns damals nicht erkannt, geschweige denn geschätzt, haben wir an der HFÖ beinahe nebenher Fähigkeiten erworben, die sogar systemübergreifend berufliche Erfolgsfaktoren darstellen. Wer marxistische Philosophie studierte, hat gelernt in Ursache-Folge-Relationen zu denken. Dialektik – ein unschätzbarer Vorteil für alle analytischen und konzeptionellen Aufgaben. Wer durch ein anstrengendes Ökonomiestudium an der HfÖ kommen wollte, musste systematisch arbeiten lernen, er musste auch zu außerordentlichen Anstrengungen bereit sein. Alles heute eher selten anzutreffende Persönlichkeitsmerkmale. Wer Studierender an der HfÖ war, kam an einer Beteiligung am gesellschaftlichen Leben nicht vorbei. Soziale Kompetenz und Teamfähigkeit mussten nicht in teuren Seminaren nachgeschult werden, ohne sie wäre man nicht durch das Studium gekommen.
Mein Resümee heute: Wir haben wohl mehr Richtiges erlernt und vor allem auch universell anwendbares Handwerkszeug trainiert, als zunächst selbst geglaubt. Ich behaupte, dass selbst der heute allenthalben kritisierte ideologische Ballast nicht nur die (beklagenswerte) Folge hatte, dass die Weltsicht extrem eingeengt wurde und Wissenschaftlichkeit (wie ich sie definiert habe) in Frage gestellt wurde. Nein, diese Ideologie vermittelte auch Sinn. Selbiger hat unsere Dozentinnen und Dozenten damals verantwortlich handeln lassen, er hat ihr Interesse an ihren Vermittlungsergebnissen begründet und dieser „ideologische“ Sinn hat uns als Studierende tatsächlich auch Interesse am Wissenserwerb vermittelt.
Meine zweite Feststellung betrifft die Hochschulbildung heute. Nach dem PISA-Schock wird auch die Hochschulbildung allenthalben kritisiert, und eine „teure“ Exzellenzinitiative jagt die andere. Schon jahrelang wird alles besser, aber irgendwie wird nichts wirklich gut. Die gesellschaftlichen Großtrends der letzten Jahrzehnte haben einen Typus von Studierenden hervorgebracht, der als hedonistischer Nutzenmaximierer nicht mehr daran glaubt, dass sein studentischer und beruflicher Werdegang etwas mit Leistung zu tun hat, deshalb möchte er mit minimalem Aufwand die Etikette erwerben, die ihm den Eintritt in eine obere Gehaltsklasse ermöglicht. Mehr eigentlich nicht.
Auch die Professorinnen und Professoren sind nicht unbeeinflusst von der gesellschaftlichen Entwicklung geblieben. Der immense Statusverlust des „deutschen Professors“ durch die Vermassung von Hochschulbildung und die unerträgliche Verregulierung der deutschen Hochschulen haben einen Typus von Dozentinnen und Dozenten geschaffen, der seinerseits nicht mehr daran glaubt, seine Stellung durch Leistung in der Lehre verbessern zu können und deshalb danach trachtet, ein Minimum an Zeit für die Lehre zu verwenden, um mit einem Maximum an Kraft an einer Statusverbesserung für sich selbst zu arbeiten. Oder er lässt nach seiner Verbeamtung gleich alle Strebungen fahren und erfreut sich an der vielen disponiblen Zeit.
Das System Hochschule entwickelt sich unabhängig von allen Steuerungsversuchen immer wieder so, dass diese gesellschaftlich bedingten Typen (hier der Studierende, dort seine Professorin bzw. sein Professor) darin ihren Hauptneigungen nachkommen können. So bleibt die Universität und die Hochschule vor allem der Ort, an dem sich die Abneigung der Studierenden gegenüber irgendwelchen Anstrengungen auf das Trefflichste mit der Abneigung der Professorinnen und Professoren trifft, für ihre Vermittlungsergebnisse Verantwortung zu übernehmen.
Das System ist krank und nicht mit Geld zu heilen. Wenn in der Bundesrepublik weitgehend auf jede Sinnstiftung außerhalb des Gelderwerbs verzichtet wird, darf man sich nicht wundern, wenn dann eine Generation ernst damit macht, in kürzester Zeit enormen Wohlstand für sich zu erwarten nur noch zu zeigen versucht, dass wir ganz normale Forschung betrieben haben. Während meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Westen, selbst die Gutmeinenden unter ihnen, doch davon ausgehen, dass die ganze Wirtschaftswissenschaft in der DDR eine reine Pseudoangelegenheit lediglich ideologischer Art war. In dieser Situation ist es ganz und gar ausgeschlossen, auf einen einigermaßen konsensfähigen Maßstab für die Leistungsfähigkeit von wirtschaftswissenschaftlicher Forschung zu hoffen.
Als unser Institut – das Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften an der Akademie der Wissenschaften der DDR – nach der Wende von Westforscherinnen und -forschern evaluiert wurde, sagte mir der Leiter der Evaluationsgruppe nach und den Umweg der Eltern und Großeltern – über Anstrengung und Leistung zu Wohlstand zu kommen – nicht mehr akzeptiert.
Wissen und Wissenserwerb müssen wieder in Wert gesetzt werden. Der m. E. einzige Weg zur Gesundung der Hochschulen führt über eine neue Sinngebung für die Gesellschaft. Ob eine kapitalistische Gesellschaft in dem reifen und damit desillusionierten Stadium wie bei uns dazu in der Lage ist, muss fraglich bleiben.
Für eine Sicht auf die Leistungen der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung in Ost und West ist die Gemengelage noch komplizierter. Die Art der Schleifung jeglicher eigenständiger Forschungskapazitäten im Osten nach der Wende und die nachhaltige Delegitimierung von Gesellschaftswissenschaften in der DDR haben bei vielen meiner Ostkolleginnen und Ostkollegen zu einer reflexartigen Abwehrreaktion geführt, die nur noch zu zeigen versucht, dass wir ganz normale Forschung betrieben haben. Während meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Westen, selbst die Gutmeinenden unter ihnen, doch davon ausgehen, dass die ganze Wirtschaftswissenschaft in der DDR eine reine Pseudoangelegenheit lediglich ideologischer Art war. In dieser Situation ist es ganz und gar ausgeschlossen, auf einen einigermaßen konsensfähigen Maßstab für die Leistungsfähigkeit von wirtschaftswissenschaftlicher Forschung zu hoffen.
Als unser Institut – das Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften an der Akademie der Wissenschaften der DDR – nach der Wende von Westforscherinnen und -forschern evaluiert wurde, sagte mir der Leiter der Evaluationsgruppe nach einem zweitägigen Aufenthalt vor Ort, dass er doch überrascht sei, wie viel ernst zu nehmende Forschung hier anzutreffen sei, und er sich für den Erhalt des Instituts einsetzen werde. Das hat ihn nicht gehindert, nur wenige Wochen danach ein Gutachten zu unterschreiben, das die Abwicklung des Instituts empfahl. War der Herr sich seiner Maßstäbe für Forschung nicht sicher, oder musste er sich einer „Parteidisziplin“ unterwerfen?
Ich erlaube mir seit langer Zeit zwei einfache Maßstäbe zur Bewertung von wissenschaftlichen Leistungen:
1. Gibt es eine nachprüfbar zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit?
2. Gibt es ausreichend wahrscheinliche Beschreibungen der Zukunft, die sich in einer ex post- Betrachtung als zutreffend herausgestellt haben?
Vor diesen Kriterien sieht die wirtschaftswissenschaftliche Forschung in der DDR nicht gut aus. In allen wesentlichen Fragen, die die SED als mit der Machtfrage verbunden glaubte (und welche Fragen haben schon keinen Machtaspekt), war eine vorurteilsfreie Betrachtung der Wirklichkeit nicht möglich. Selbst wenn man gar nicht so selten die Unterbringung von kleinen Wahrheiten in großen Texten feiern konnte, blieb das Gesamtergebnis Apologetik. Schon das Fundament unseres theoretischen Denkens stand auf einer falschen Vorstellung vom Menschen.
Wir dachten an eine Art homo comitatus, einen gesellschaftlichen, sozialen Menschen, der sein höchstes Streben in der Befriedigung von vernünftigen Bedürfnissen für alle sah. Und selbst als schon abzusehen war, dass die DDR ihre weitgehend ignorierten Widersprüche nicht überleben wird, las man in den wirtschaftswissenschaftlichen Periodika der DDR noch immer den pseudotheoretischen Schaum von der „intensiv erweiterten Reproduktion“.
Was hätte nur Max dazu gesagt. Bei der Frage, was für ihn Wissenschaft sei, zitiert Marx aus Dantes „Göttliche Komödie“: „Am Eingang zur Wissenschaft muss man … jeden Argwohn von sich lassen. Und jede Feigheit muß des Todes sterben.“
Fordert hier Marx unideologische Offenheit und Mut? Natürlich sind hier in Bezug auf uns Forscherinnen und Forschern aus der DDR jede Menge Relativierungen möglich, aber insgesamt bleibt nüchtern festzustellen: Offen waren wir nicht und mutig auch nicht. Es war bequemer, irgendwie im Mainstream mitzumachen, als einem abstrakten Wahrheitskriterium für Wissenschaft zu frönen. Es ist immer bequemer, im Mainstream mitzumachen. Denn nach der Wende und einer detaillierten Kenntnisnahme der wirtschaftswissenschaftlichen Leistungen in der Bundesrepublik wurde schnell deutlich, dass auch hier – bei aller Pluralität der Möglichkeiten – im Wesentlichen der Mainstream zu Worte kommt. Mindestens die letzten 20 Jahre ist die Wirklichkeit von einer neoliberalen Gesellschaftstheorie und ihrer ökonomischen Entsprechung, der Neoklassik, erklärt worden. Ihr wirklichkeitsgestaltender Einfluss ist unübersehbar: Staatseigentum wurde privatisiert, privater Gewinnerwerb und seine Hortung wurden steuerlich begünstigt, der Austausch von Gütern und Dienstleistungen wurde dereguliert, die Beschränkungen des Kapitalmarktes wurden weitgehend aufgegeben. Das geht solange gut, wie die Staaten durch Geldvermehrung und Hinnahme ihrer eigenen Verschuldung bereit sind, die Renditeerwartungen der Kapitaleigner zu befriedigen. Nun aber wendet sich der „Markt“ (wer ist das eigentlich, der sich hinter dieser euphemistischen Formel verbirgt, wenn nicht das krude Eigeninteresse von Kapitaleignern) gegen die Kuh, die ihn bisher genährt hat. In Ermanglung besserer Anlageaussichten wird nun mit dem Geld, das die Staaten wenigen Kapitaleignern zu akkumulieren erlaubten, gegen die Staaten spekuliert.
Die Welt steht vor einem finanzpolitischen Desaster, dass in seinen Ausmaßen und in seinen möglichen Folgen für die Stabilität von Gesellschaften seinesgleichen sucht. Hat die neoliberale Ökonomie diese existentielle Krise kommen sehen? Beschreibt sie heute Ursachen und Bewegungsgesetze der Weltökonomie in der Krise richtig? Hat sie Rezepte gegen die Gefahr? Dreimal nein. Die Mainstream-Ökonomie im Westen hat spätestens jetzt ihr Waterloo-Erlebnis. Auch sie konnte sich zu keiner Zeit aus ihrem ideologischen Rahmen lösen. Auch sie hat ein falsches Menschenbild zur Grundlage, in dem der homo oeconomicus durch seine rationalen, nutzenmaximierenden Handlungen dafür sorgt, dass mit unsichtbarer Hand gleichgewichtsähnliche Marktverhältnisse entstehen, die die allgemeine Wohlfahrt befördern. Auch hier hat der Immobilien- und Bankencrash 2008 die Sachwalterinnen und Sachwalter des Finanzkapitals nur kurz erschrecken können.
Heute sind sie schon wieder im alten Fahrwasser. Ganz so, wie man in der DDR noch im krachenden Gebälk nach Intensivierung der Volkswirtschaft rief. Ich habe neulich gelesen, dass das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die Zunft der Ökonominnen und Ökonomen noch geringer sei als das in die Politikerinnen und Politiker. Was für eine Karriere für den neoliberalen Mainstream! Nein, die neoliberale Theorie hat versagt. Sie hat keine zutreffende Erklärung der Wirklichkeit, sie kann das Kommende nicht prognostizieren und sie kann nicht Abhilfe schaffen, wenn es brennt. Wenn wir nicht wieder mit in dem Topf säßen, unter dem gerade so mächtig das Feuer entfacht wird, könnte man sich einer gewissen Schadenfreude ob der Situation kaum verschließen. Denn offener oder mutiger als die Forscherinnen und Forscher aus der DDR waren unsere westlichen Kolleginnen und Kollegen auch nicht gerade. Auch hier galt, dass nur in der Mainstream-Ökonomie eine ansprechende Karriere zu machen war und deshalb die wenigen Widerstandsnester einer alternativen Ökonomie zusehends austrockneten.
Ist das dann jetzt die Stunde der Gegenentwürfe? Kann nun aus der Pluralität der Modelle nach geeigneteren gesucht werden? Fehlanzeige. Der öffentliche Diskurs wird scheinbar unwandelbar von Ansichten und Personen bestimmt, die gerade ihre Untauglichkeit zur Beurteilung der Situation nachgewiesen haben. Da hilft es wenig, dass in Talkshows auch immer wieder Leute zu Wort kommen, die extreme Gegenmeinungen zum Ausdruck bringen. Das braucht die Show und das dürfen die Gegenstimmen, da sie das System ja nicht in Gänze in Frage stellen. Für wirklich alternative Erklärungen fehlt
– bezahlte Forschung für alternatives Denken (die wenigen Altlinken auf Professorenstellen können das wahrscheinlich nicht leisten),
– ein Zugang zu den Medien für alternatives Denken (so publizieren die Alternativ ein kleinen Blättern und für den kleinen Kreis ohnehin so oder ähnlich Denkender),
– das Vertrauen der Öffentlichkeitsarbeiter, aber wohl auch der Öffentlichkeit selbst, dass eine „neue politische Ökonomie“ das leisten kann, was der Mainstream der neoliberalen Denkerinnen und Denker doch nicht zu leisten vermochte.
Unter diesen Bedingungen wird es noch lange Zeit brauchen, hoffentlich nicht auch einen zivilisatorischen Crash, bevor das Politische wieder in die Ökonomie einziehen kann. Aber auch dann wird man unserer Generation von in der DDR sozialisierten Forscherinnen und Forschern hier nur bedingt vertrauen, weil man immer argwöhnen wird, dass das ja schon früher gescheiterte System des „realen Sozialismus“ rehabilitiert oder gar wieder eingeführt werden soll.
Meine durchaus bittere Erkenntnis: Offensichtlich hat jede Generation, was das Vertrauen anbelangt, nur einen Schuss. Wir haben den unseren vertan. In Ost und West.

Günter Krause/Christa Luft/Klaus Steinitz (Hrsg.): Wirtschaftstheorie in zwei Gesellschaftssystemen Deutschlands, dietz berlin, Berlin, 2012, 203 Seiten, 14,90 Euro. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.