15. Jahrgang | Nummer 21 | 15. Oktober 2012

Ab, in die Berge

von Renate Hoffmann

Nach Tirol. Zum Achensee, gesäumt vom Karwendelgebirge und den Bergen des Rofan. Bleibe in Pertisau. – Man möchte zu den Gipfeln hinauf, von einem unstillbaren, unerklärlichen Drang getrieben. Vielleicht will man der Erdenschwere entrinnen, vielleicht nur wissen, wie sich die Welt von oben zeigt – schroff oder lieblich oder schrundig, oder in ausgewogener Mischung wie das Leben?
Die Morgenwanderung durch das Tal verspricht einen Prachtstag. Es lächelt der Himmel, die Berge lächeln. Und der Mensch auch. – Wer nur die Wiesen beschreiben könnte mit ihrem würzigen Duft und dem Blühen. Man möchte sich darin ausstrecken, im Margaritenweiß, im Blau der Glockenblumen und dem Kleerosarot, wären da nicht die Hinterlassenschaften der Kühe …
Die Felswände, von der Morgenröte übergossen, wuchten empor. Tau ist gefallen und behängt das feine Gespinst in den Latschenkiefern mit Perlentröpfchen. Der Flachländer schwelgt.
Auf der Gramai Alm tummeln sich – den verschiedenen Sprachen nach – internationale Urlaubswillige. Sie treffen mit Auto, Bus, manchmal auch zu Fuß ein. Die Werbetrommel trommelte erfolgreich. Denn hier ist alles „einzigartig, kuhl, exklusiv und urig; geeignet für Hochzeiten, Taufen, Geburtstage, Betriebsausflüge, Kleinseminare, Firmenfeiern.“ Und als Zugabe: „Frische Bergluft, Stille, reine Natur und eine einzigartige Kulisse mitten im Naturpark Karwendel.“ Ich beschleunige den Wanderschritt, um die „reine Natur“ zu erreichen.
Allmählich hebt mich der Pfad über das Gramaialm-Gewusel. Silberdisteln, die stolzen Künder des Herbstes, blühen schon. Bienengesumse, Arnikablüten und dunkelbraune Schmetterlinge. Einer von ihnen lässt sich auf meiner Schulter nieder, schont seine Flugenergie und nutzt für längere Zeit die Fremdbeförderung. – Wasser fällt über Felsstürze und sperrt den Weg. Vorsichtiges Balancieren von Stein zu Stein, den letzten verfehle ich … Der Pfad engt sich zum Steig und zieht in Serpentinen aufwärts. Rückblicke ins Falzthurntal lassen die Welt dort unten klein und unbedeutend erscheinen. Von den ragenden Gipfeln umgeben, fühlt man allerdings rasch die eigene Bedeutungslosigkeit.
Mit dem braunen Schmetterling auf der Schulter, erreiche ich den hochgelegenen Übergang ins nächste Karwendeltal. Verweilen und schauen. Für einen Augenblick glaubt man, die eigenen Grenzen überwinden und fliegen zu können. Das macht übermütig! Auf dem Rückweg überdenke ich neue Pläne. Selbstverständlich sind sie nun höher gespannt und darauf bedacht, den Moment des Fliegens zurückzuholen.
Diesmal soll es die Seebergspitze sein. Sie steigt majestätisch an den Ufern des Achensees empor. Verlockend. Das Gipfelkreuz – zwei dünne Bleistiftstriche gegen den Himmel – kennzeichnet das Ziel.
Der Aufstieg beginnt voller Tatendrang. Die alpine Flora wird interessiert wahrgenommen; Rostblättrige Alpenrosen, eine welkende Türkenbuntlilie, das Schwarze Kohlröschen aus der Familie der Knabenkräuter. Und die länderübergreifende florale Überraschung: Gentianella germanica – hübsch zartrosa getönt. Der Deutsche Enzian in Austria.
Doch merklich mit dem Höhengewinn lässt die Aufmerksamkeit für das reichhaltige botanische Angebot nach. Der angestrebte Gipfelsturm flaut ab. Schritt vor Schritt vor Schritt. Am schmalen Felsband entlang, über kantige, schräge Platten hinweg, durch Spalten gezwängt. Der Mensch ist ein seltsames Wesen. Er steigt schwitzend hinauf, mit der sicheren Gewissheit versehen, wieder absteigen zu müssen. Warum eigentlich bleibt er nicht unten? Es würde doch den Vorgang vereinfachen.
Kurzzeitige Umkehrgedanken. Dies aber verbietet der Stolz. Nun verlangt es die Konsequenz, auch das letzte Wegstück zu überwinden; rechts abfallend, links abfallend, und in der Mitte Herzklopfen.
Wenig später sitze ich etwas kleinlaut unter dem mächtigen Gipfelkreuz. Zwar ist der Rundblick an Großartigkeit nicht zu überbieten, doch vom „Fliegenkönnen“ bemerke ich keinerlei Anzeichen. Den Abstieg vor Augen, bewegt mich hingegen nur ein Gedanke: Ab, ins Flachland.