15. Jahrgang | Nummer 18 | 3. September 2012

Von der Verpflichtung, dem Frieden zu dienen

von Wolfram Wette

Seit 1990 erleben wir in Deutschland eine schleichende Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik. Ihre Folgewirkungen strahlen längst auch auf die Innen-, Rechts- und Gesellschaftspolitik aus. Dabei war sich die Mehrheitsgesellschaft nach 1945 einig in der Überzeugung „Nie wieder Krieg!“ Seit den 1950er Jahren lernten die Menschen hierzulande, dass man keine Territorien erobern muss, um die eigene Bevölkerung ernähren zu können, dass Wohlstand und soziale Sicherheit im Frieden viel besser gedeihen und selbst der Export von Waren davon profitiert.
Die Bundesrepublik war ein Land, in dem Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende nach und nach größeres Ansehen gewonnen haben als die Wehrdienstleistenden. Erinnert werden muss in diesem Zusammenhang auch an Bundespräsident Gustav Heinemann (SPD), vormals ein führender Gegner der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland, der bei seiner Antrittsrede vor Bundestag und Bundesrat in Bonn am 1. Juli 1969 unter großer Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten sagen konnte: „Ich sehe als erstes die Verpflichtung, dem Frieden zu dienen. Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken lernte, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben.“ Diese Bundesrepublik hat sich nach 1945 einer Außenpolitik der militärischen Zurückhaltung befleißigt und ist damit gut gefahren.
Dass sich Deutschland von dieser erfolgreichen Politik nach dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Einigung nach und nach verabschiedet hat, ist umso bemerkenswerter, als sich das Land in der höchst komfortablen Lage befindet, ringsum nur noch von Freunden umgeben zu sein. Damit eröffnete sich die einzigartige Chance, der historisch-politischen Erfahrungen verpflichteten Losung „Nie wieder Krieg!“ eine Vielzahl friedenspolitischer Schritte folgen zu lassen und sie im internationalen Raum als spezifisch deutschen Beitrag zur „gewachsenen Verantwortung“ und zum Weltfrieden zu vertreten. Dies, zumal dessen Bevölkerung (West wie Ost) seit Jahrzehnten eine Friedensmentalität entwickelt hat, die – historisch bedingt – wahrscheinlich sogar ausgeprägter und belastbarer war und ist als in anderen europäischen Ländern.
Doch nach einer Schockstarre in der Umbruchphase von 1989/90 suchten Militärführung und Teile der Politik fieberhaft nach neuen Aufgaben für die Streitkräfte: Grenzschutz gegen Flüchtlinge, Einsatz als „Grünhelme“ zum Schutz der Natur, Einsatz im Innern gegen Terroristen. Dann setzte sich, dem Wink des amerikanischen Präsidenten Bush sen. folgend, die Idee durch, eine neue, militärisch definierte Rolle als „partner in leadership“ zu übernehmen.
Seit 1990 freundeten sich die Parteien Zug um Zug mit dem Kurswechsel an. Dabei konnte es den Militärs und der Rüstungsindustrie egal sein, wie die Auslandseinsätze politisch legitimiert wurden: als friedensschaffende Maßnahmen, als Krieg gegen den Terror, als bewaffnete Entwicklungshilfe oder als Krieg für Menschenrechte, nationale Interessen, die Stabilisierung eines brüchigen Staates am Hindukusch oder – neoimperialistisch – zur Rohstoffsicherung.
Inzwischen ist Deutschland auf dem schändlichen Rang 3 der Liste der größten Rüstungsexporteure gelandet, schickt sich die Regierung an, die Richtlinien für Waffenexporte und das restriktive Außenhandelswirtschaftsgesetz zugunsten der deutschen Rüstungsindustrie zu ändern. Gleichzeitig ist die schwarz-gelbe Koalition dabei, per Gesetz einen gesonderten Gerichtsstand für im Ausland eingesetzte Soldaten einzurichten, was einer durch die Hintertür etablierten neuen Militärjustiz gleichkommt.
Kaum dass die Allgemeine Wehrpflicht abgeschafft ist, wird in den Schulen verstärkt für die – von der Bevölkerung bislang verweigerte – Akzeptanz der weltweiten Militäreinsätze geworben. In den Hochschulen macht sich die Tendenz breit, Zivilklauseln gegen Kriegsforschung nicht zu akzeptieren oder sie zu unterlaufen.
Der Übergang zu einer militärisch instrumentierten Außenpolitik in den beiden letzten Jahrzehnten wird von ihren Verfechtern gerne als ein naturgegebener Prozess dargestellt. Das Gegenteil ist richtig. Heute ist es an der Zeit, dass die deutsche Zivilgesellschaft den Vertretern, Planern und Machern der militärischen Interventionspolitik die Rote Karte zeigt und klar macht, dass in Deutschland nur noch gewaltfreie Methoden der Konfliktbearbeitung akzeptiert werden.

Der Autor ist Professor der Geschichte und Friedensforscher.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung in Badische Zeitung vom 4. August 2012