15. Jahrgang | Nummer 13 | 25. Juni 2012

Susanna im Bade

von Frank-Rainer Schurich

In nicht geringes Erstaunen versetzte 1981 ein siebzehnjähriger Ganove die Rotterdamer Kriminalpolizei. Einmal festgenommen, sprudelten die Geständnisse wie ein Wasserfall. Nach Summierung der Diebstähle, Überfälle und Brandstiftungen, die dem Täter umgerechnet über fünf Millionen Mark Beute gebracht hatten, zählte der erschöpfte Kommissar über 2.000 Delikte.
Die meisten Missetäter sind nicht so gesprächig, und auch Zeugen lügen zuweilen wie gedruckt. Um möglichst wahrhafte Aussagen zu erhalten, gibt es Vernehmungen, die früher Verhöre hießen, bei der Polizei, Staatsanwaltschaft und vor Gericht. Und damit all die fragenden Beamten es richtig machen, gibt es die Wissenschaft von der Vernehmung. Aber wer ist der Begründer der so genannten kriminalistischen Vernehmungslehre?
Johann Christian Schaumann (1768 bis 1821) hatte 1792 in seiner in Halle erschienenen Schrift „Ideen zu einer Criminalpsychologie“ einen ersten Schritt getan, indem er das Verhältnis von Vernehmer und Vernommenen im Strafverfahren, die damals in alter Tradition Inquisitor und Inquisit hießen, beleuchtete. Jeglichen Zwang lehnte er als Gegner des Inquisitionsverfahrens ab; der Vernehmer müsse versuchen, „die dem Inquisiten so nahe liegende Vorstellung, dass der Inquisitor sein Gegner, sein Feind sei, wegzuräumen“.
Später haben Carl Joseph Anton Mittermaier (1787 bis 1867) und Ludwig Hugo Franz von Jagemann (1806 bis 1853), Schüler und Zeitgenosse Mittermaiers, die Strafuntersuchungskunde, die später Kriminalistik hieß, zu einem Gesamtsystem gebündelt, in dem auch forensisch-psychologische und vernehmungstaktische Fragen eine herausragende Rolle spielen. Das Credo der Jagemannschen Verhörslehre findet sich im folgenden Zitat: „Keine Aufgabe der praktischen Jurisprudenz kommt derjenigen gleich, welche in einem wissenschaftlich geordneten und kunstgerechten ausgeführten Criminalverhöre liegt. Sie besteht eigentlich in einem Worte darin, von einem widerstrebenden Individuum ohne Anwendung irgendeines Gewaltmittels, die Wahrheit zu erforschen.“
Aber den Ursprung der kriminalistischen Vernehmungslehre findet man nicht in einem wissenschaftlichen Werk, sondern in den Apokryphen des Alten Testaments. Daniel, Held der jüdischen Folklore und Hauptperson einer Reihe überlieferter Geschichten, rettete darin Susanna vor dem sicheren Tode.
In Babylon lebte der wohlhabende Jojakim mit seiner bildschönen Frau Susanna in einem großen Haus, umgeben von einem schönen Garten. Regelmäßig trafen sich an dieser gemütlichen Stätte die besseren Kreise der Stadt, unter ihnen auch zwei Älteste, die das Richteramt bekleideten. Nach einer solchen Versammlung beobachteten sie die nackt badende Susanna im Garten. Als die Mägde Balsam und Seife holen und den Garten verschließen gingen, stürzten sich die beiden Alten auf sie und sprachen: „Siehe, der Garten ist zugeschlossen, und niemand sieht uns, und wir sind entbrannt in deiner Liebe; darum so tu unsern Willen. Willst du aber nicht, so wollen wir auf dich bekennen, dass wir einen jungen Gesellen allein bei dir gefunden haben und dass du deine Mägde darum habest hinausgeschickt.“
Susanna rief um Hilfe, aber die beiden Alten machten ihre Drohung wahr. Die keusche Susanna wurde aufgrund der Falschaussagen der elenden Richter zum Tode verurteilt. Als man sie zur Richtstatt führte, mischte sich ein Knabe namens Daniel ein: „Seid ihr von Israel solche Narren, dass ihr eine Tochter Israels verdammt, ehe ihr die Sache erforschet und gewiss werdet?“ Daniel ließ die beiden Alten an verschiedene Orte bringen, so dass sie sich nicht sehen und hören konnten. Dann frage er den einen, unter welchem Baume er Susanna und ihren Galan beieinander erwischte. „Unter einer Linde“, antwortete der erste Richter. Auf die gleiche Frage erwiderte der zweite Bösewicht: „Unter einer Eiche.“ Damit hatte Daniel die falschen Zeugnisse der beiden Alten bewiesen. Die Missetäter wurden mit dem Tode bestraft, ganz die Strafe, die sie Susanna zugedacht hatten.
Damit ist Daniel der erste Detektiv der Weltgeschichte, der die heutige Binsenweisheit, die Zeugen immer getrennt zu vernehmen, damit sie ihre Aussagen nicht abgleichen können, eindrucksvoll praktizierte. Ein wahrer Held und der eigentliche Begründer der kriminalistischen Vernehmungslehre.

„Die Geschichte von Susanna und Daniel“, so der Originaltitel in der Bibel, hat viele Maler inspiriert. Die beiden lüsternen Alten, die es gar nicht erwarten konnten, sich auf Susanna zu stürzen, und eine nackte, wunderschöne Frau – das war ein unwiderstehliches Sujet. Rembrandt malte um 1634 „Susanna und die beiden Ältesten“ in dem Moment, als Susanna bedrängt und gepackt wurde, im Gemälde von Lovis Corinth (1890) schauen die geilen Richter noch durch einen Spalt in den Vorhängen. Auch Tizian, Tintoretto und Paolo Veronese haben sich in berühmten Bildern diesem Thema gewidmet, das zudem eine gute Gelegenheit gab, in Zeiten, in denen Aktdarstellungen als unsittlich galten, den unbekleideten menschlichen Körper zu zeigen.
Susanna, schon durch ihren Namen, der hebräisch „Lilie“ oder „Rose“ bedeutet, zur Reinheit bestimmt, ist in der Malerei und in der Literatur zum Keuschheitsidol erhoben worden. Es gab durch die Jahrhunderte nur wenige Zweifler, zum Beispiel den fast vergessenen Hamburger Dichter Friedrich von Hagedorn (1708 bis 1754):

Susanna

Susannas Keuschheit wird von allen hochgepriesen:
Das junge Weib, das jeder artig fand,
Tat beiden Greisen Widerstand.
Und hat sich keinem hold erwiesen.
Ich lobe, was wir von ihr lesen;
Doch räumen alle Kenner ein,
Das Wunder würde größer sein,
Wenn beide Buhler jung gewesen.