15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Aus der Vogelperspektive

von Uri Avnery, Tel Aviv

Am 15. Mai, dem Jahrestag der Gründung des Staates Israel, begehen die arabischen Bürger einen Tag der Trauer für die Opfer der Nakba („Katastrophe“) – den Massenauszug des halben palästinensischen Volkes aus dem Gebiet, das Israel wurde.
Wie jedes Jahr hat dies viel Wut erzeugt. Die Tel Aviver Universität erlaubte den arabischen Studenten, eine Versammlung abzuhalten, die von ultra-rechten jüdischen Studenten angegriffen wurde. Die Haifaer Universität verbot solch eine Versammlung. Vor einigen Jahren wurde in der Knesset über ein Nakba-Gesetz debattiert, nach dem Teilnehmer an solchen Gedenkfeiern drei Jahre Gefängnisstrafe bekommen sollten. Dies wurde später modifiziert: Unterstützungsgelder von Seiten der Regierung sollen von den Instituten zurückgezogen werden, die die Nakba erwähnen.
Die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ mag wohl die einzige Demokratie der Welt sein, die ihren Bürgern verbietet, an ein historisches Ereignis zu erinnern. Vergessen ist eine nationale Pflicht.
Es ist schwierig, die Geschichte des „palästinensischen Problems“ zu vergessen, weil es unser Leben 65 Jahre nach der Gründung des Staates Israels beherrscht; die Hälfte der Nachrichten in unseren Medien befasst sich – direkt oder indirekt – mit diesem einen Problem. Eben erst hat die südafrikanische Regierung beschlossen, alle Produkte aus den Westbanksiedlungen müssten eindeutig gekennzeichnet werden. Diese Maßnahme, die in Europa schon besteht, wurde – ausgerechnet – von unserm Außenminister Avigdor Lieberman rundweg als „rassistisch“ verurteilt, obwohl sich Südafrika nur einem Boykott anschließt, der vor 15 Jahren von meinen Freunden und mir initiiert wurde.
Die neue Regierungskoalition hat erklärt, sie wolle die Verhandlungen mit den Palästinensern wieder aufnehmen. Jeder weiß, dass dies ein hohles Versprechen ist. […]
Alle Kandidaten für die ägyptische Präsidentschaft versprechen, den Kampf für die Palästinenser aufzunehmen.
Ranghohe israelische Armeeoffiziere haben bekannt gemacht, dass 3.500 syrische und iranische Raketen, wie auch Zehntausende Hisbollahraketen im Südlibanon bereit liegen, um wegen Palästina auf uns abgefeuert zu werden.
Und so weiter – eine tägliche Liste. 115 Jahre nach der Gründung der zionistischen Bewegung beherrscht der israelisch-palästinensische Konflikt unsere Nachrichten.
Die Gründungsväter des Zionismus übernahmen den Slogan „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. (Geprägt wurde dieser Slogan schon 1854 von Earl Shaftesbury […].) Sie glaubten, das „verheißene Land“ sei leer. Sie wussten natürlich, dass es in dem Land ein paar Leute gab, aber die Zionisten waren Europäer, und für Europäer am Ende des 19. Jahrhundert, der Blütezeit des Imperialismus und Kolonialismus, zählten die Farbigen – braun, schwarz, gelb, rot oder was auch immer – nicht als wirkliche Menschen.
Als Theodor Herzl die Idee eines jüdischen Staates erfand, dachte er nicht an Palästina, sondern an ein Gebiet in Argentinien. Er beabsichtigte, dieses Gebiet von der ganzen einheimischen Bevölkerung frei zu machen – aber erst, wenn sie alle Schlangen und gefährlichen wilden Tiere getötet hätten. In seinem Buch „Der Judenstaat“ wurden die Araber nicht erwähnt – und das ist kein Zufall. Als Herzl es schrieb, dachte er nicht einmal an dieses Land. Das Land erscheint im Buch nur in einem winzigen Kapitel, das im letzten Augenblick hinzugefügt wurde: „Palästina oder Argentinien?“
Deshalb sprach Herzl nicht über die Vertreibung des palästinensischen Volkes. Dies wäre auf jeden Fall unmöglich gewesen, da Herzl den ottomanischen Sultan um eine Charta für Palästina gebeten hatte. […] Dies erklärt die ansonsten seltsame Tatsache, dass die zionistische Bewegung niemals eine klare Antwort auf die allerfundamentalste Frage gegeben hat: Wie kann ein jüdischer Staat in einem Land geschaffen werden, das schon von einem anderen Volk bewohnt wird? Diese Frage ist bis zum heutigen Tage unbeantwortet geblieben.
Aber nur scheinbar. Irgendwo unter allem verborgen, an den Rändern des kollektiven Bewusstseins, hat der Zionismus immer eine Antwort. Sie ist so selbstverständlich, dass es nicht nötig ist, darüber nachzudenken. Nur wenige haben den Mut, es offen auszusprechen. Es liegt sozusagen im „genetischen Code“ der zionistischen Bewegung und seiner Tochter des Staates Israel. Dieser Code sagt: ein jüdischer Staat im ganzen Land Israel. Und deshalb totale Opposition gegenüber der Errichtung eines palästinensischen Staates – zu allen Zeiten, […] egal, was es kostet.
Wenn ein Stratege einen Krieg plant, bestimmt er als erstes dessen Ziel. Das ist das Hauptbestreben. Jedes andere Bestreben muss sich dementsprechend danach ausrichten. Wenn es das Hauptbestreben unterstützt, ist es akzeptabel. Wenn es dieses Hauptbestreben verletzt, muss es zurückgewiesen werden. Das Hauptbestreben der zionistisch/israelischen Bewegung ist es, einen jüdischen Staat im ganzen Land Israel zu errichten – dem Land zwischen Mittelmeer und dem Jordanfluss. Mit anderen Worten: die Verhinderung eines arabisch- palästinensischen Staates.
Wenn man dies begreift, machen alle Ereignisse der letzten 115 Jahre Sinn. All die Biegungen und Windungen, alle scheinbaren Widersprüche und Umwege, all die seltsam aussehenden Entscheidungen machen einen perfekten Sinn. Aus der Vogelperspektive sieht die zionistisch-israelische Politik aus wie ein Fluss, der in Richtung Meer fließt. Wenn er auf ein Hindernis stößt, umfließt er es. Der Fluss fließt einmal nach rechts, einmal nach links, manchmal sogar zurück. Aber er strebt mit einer wundersamen Entschlossenheit zu seinem Ziel.
Das leitende Prinzip war, jeden Kompromiss anzunehmen, der uns gibt, was wir in jedem Stadium bekommen können, doch nie das Endziel aus den Augen zu verlieren. Diese Taktik erlaubt uns jeden Kompromiss, außer einem: einen arabisch-palästinensischen Staat, der die Existenz eines arabisch-palästinensischen Volkes bestätigt. Alle israelischen Regierungen haben gegen diese Idee mit allen erreichbaren Mitteln gekämpft. In dieser Hinsicht gab es keinen Unterschied zwischen David Ben Gurion, der ein geheimes Abkommen mit König Abdullah von Jordanien schloss, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern, wie die Resolution der UN-Vollversammlung 1947 verfügt hatte, und Menachem Begin, der einen Sonderfrieden mit Anwar Sadat machte, um Ägypten vom israelisch-palästinensischen Krieg fern zu halten. Geschweige denn zu Golda Meirs berüchtigtem Ausspruch: „So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht.“ Tausende anderer Entscheidungen von verschiedenen israelischen, sich folgenden Regierungen sind derselben Logik gefolgt.
Die einzige Ausnahme mochte das Oslo-Abkommen sein […]. Nach der Unterzeichnung eilte Yitzhak Rabin allerdings nicht weiter, um solch einen Staat zu gründen. Er blieb stehen, als ob er vor seiner eigenen Kühnheit erschrak. Er zögerte, zauderte, bis der unvermeidliche zionistische Gegenangriff in Fahrt kam und seinen Bemühungen – und seinem Leben – ein Ende setzte.
Der gegenwärtige Kampf um die Siedlungen ist ein integraler Teil dieses Prozesses. Das Hauptziel der Siedler ist es, einen palästinensischen Staat unmöglich zu machen. Alle israelischen Regierungen haben die Siedlungen – offen oder geheim – unterstützt. Sie sind natürlich nach dem Internationalem Recht illegal, viele von ihnen sind sogar nach israelischem Gesetz illegal […]. Israels erhabener Oberster Gerichtshof hat angeordnet, mehrere von ihnen zu entfernen, und er erlebt, dass seine Entscheidungen von der Regierung ignoriert werden.
Die Siedler behaupten, dass nicht eine einzige Siedlung ohne geheimes Einverständnis der Regierung errichtet wurde. Und tatsächlich sind die unrechtmäßigen Siedlungen sofort mit Wasserleitungen, dem Stromnetz und speziellen neuen Straßen verbunden worden, und die Armee eilte hin, um sie zu verteidigen – tatsächlich sind die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) schon seit langem die Siedlungsverteidigungskräfte (SDF) geworden. Anwälte und Rechtsverdreher sind massenweise damit beschäftigt, riesige Flächen palästinensisches Land zu enteignen. Eine berühmte Anwältin entdeckte ein vergessenes ottomanisches Gesetz, das besagt, wenn man vom Rande eines Dorfes schreit, dann gehört all das Land dem Sultan, wo man dieses Schreien nicht mehr hört. Da der israelische Staat der Erbe der jordanischen Regierung sei, die der Erbe es Sultan sei, gehöre dieses Land der israelischen Regierung, die es den Siedlern weitergibt. (Das ist kein Witz.)
Während der israelisch-palästinensische Konflikt zu ruhen scheint und „nichts geschieht“, ist er mit aller Kraft auf dem einzigen Schlachtfeld, das wichtig ist, im Gange: im Siedlungsunternehmen. Alles andere ist marginal, wie die erschreckende Aussicht eines israelischen Angriffs auf den Iran. Wie ich schon oft gesagt habe, wird dieser nicht geschehen. Er ist ein Teil der Bemühungen, die Aufmerksamkeit von der Zwei-Staaten-Lösung abzulenken, der einzigen friedlichen Lösung, die es gibt.
Wohin führt die Negation des palästinensischen Staates? Logischerweise kann sie nur zu einem Apartheidstaat im ganzen Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan führen. Auf die Dauer wird dies unhaltbar sein und zu einem „bi-nationalen“ Staat mit arabischer Mehrheit führen, der völlig inakzeptabel für fast alle israelischen Juden sein würde. Was bleibt also?
Die einzig denkbare Lösung würde ein Transfer aller Araber auf die andere Seite des Jordans sein. In einigen ultrarechten Kreisen wird darüber offen geredet. Der jordanische König hat schon eine Heidenangst davor.
Ein Bevölkerungstransfer geschah schon 1948. Es gibt noch immer einen Streit, ob dieser absichtlich geschah. Im ersten Teil des Krieges war er eindeutig eine militärische Notwendigkeit (und wurde von beiden Seiten praktiziert). […] Aber der Hauptpunkt ist, dass es den Flüchtlingen aus über 400 Dörfern nicht erlaubt wurde, zurückzukehren, als die Feindseligkeiten vorüber waren. Im Gegenteil: die Bevölkerung einiger Dörfer wurde sogar noch später vertrieben, und auch diese Dörfer wurden zerstört. Jeder handelte nach der unsichtbaren Direktive der Hauptbestrebung, eine Anweisung, die so tief ins kollektive Bewusstsein gedrungen war, dass keine speziellen Order mehr nötig waren. […]
Es ist oft gesagt worden, der israelisch-palästinensische Konflikt sei der Zusammenprall zwischen einer unaufhaltbaren Kraft und einem unbeweglichen Objekt. Dies wird unser Leben und das der nächsten Generationen dominieren. Wenn wir nicht etwas tun, das fast unmöglich aussieht: das Hauptbestreben ändern das heißt, die historische Richtung unseres Staates. Notwendig dafür wäre ein neues nationales Ziel: Friede und Koexistenz, Versöhnung zwischen dem Staat Israel und dem Staat Palästina.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert. Readktionell leicht gekürzt.)