15. Jahrgang | Nummer 10 | 14. Mai 2012

Männer mit Durchblick

von Henryk Goldberg

Meine erste war ein richtiges Erlebnis. Ich hatte vorher gewusst, dass ich es mögen würde, und hatte so gut wie keine Angst. Irgendwie, vielleicht ging Ihnen das ja auch so, sah ich dann die Welt tatsächlich mit anderen Augen. Natürlich, sie, die Welt, war die gleiche, die sie vordem schon war, aber irgendwie anders war sie doch. Heller, klarer. Das ist nun schon einige Jahre her, aber eine schöne Erinnerung bleibt es gleichwohl. Inzwischen, das ist nicht viel für meine Jahre, bin ich bei der zweiten, aber die zeigt erste Verschleißerscheinungen. Oder vielmehr bin ich es wohl, der Verschleiß einzuräumen hat.
Vor langer Zeit, in einem anderen Land und in einer anderen Stadt, da wohnten wir in der vierten Etage. Und einmal als ich nach Hause kam, da winkte mir von oben, vom Fenster her, die Gattin fröhlich zu, und als ich oben war, da sprach sie noch fröhlicher: Ich glaube, du kriegst eine Platte. Du spinnst ja!, entgegnete ich geistesgegenwärtig, und weil ich ein großzügiger Mann bin, bekam sie diesmal nichts auf die Nuss. Doch, wie sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte Zug um Zug ergab, sie hatte nicht ganz Unrecht. Und seit einiger Zeit bestelle ich bei meiner Friseuse immer die Zwei-Millimeter-Frisur. Man gewöhnt sich, aber es dauert. Die Platte signalisierte den fortschreitenden Verfall, den ein kluger Mensch, ja doch, verdammt noch mal, schließlich und endlich akzeptieren muss. Aber ziemlich bescheuert ist es schon.
Anders als die Platte hat mich die eingangs erwähnte Brille nie gestört. Irgendwie wusste ich tatsächlich immer, ich würde sie mögen. Es hat vermutlich auch damit zu tun, dass die Brille weniger Verfall signalisiert. Schon Kinder haben Brillen, viele junge Menschen. Vielleicht liegt es auch ein wenig daran, dass man nicht so oft zum Optiker muss wie zum Friseur, was ich nämlich ziemlich nervig finde. Auch sind Optiker irgendwie seriöser, die schicken immer Geburtstagskarten und lesen Zeitung. Einer hat sogar mal in Erfurt mit mir geworben, aber zu dem gehe ich nicht, der hat mir auch nichts bezahlt, Geizlappen der.
Kaum ein Mensch, der mir etwas verkauft, befasst sich gründlicher mit mir als ein Optiker, der kümmert sich mehr als ein Autoverkäufer, obgleich die Brille, wenn man keinen gebrauchten Kleinwagen erwirbt, doch noch etwas preiswerter ist. Und schließlich, beim Optiker liegen keine Haare auf dem Boden, das ist dem Ambiente eines Geschäftsvorfalles durchaus förderlich. Was bedeutet, dass eine Brille ihren Käufer von Anfang an den Eindruck vermittelt, man sei eine seriöse, ernsthafte Persönlichkeit. Und dann, draußen, vermittelt sie dir den Eindruck, du würdest anderen den Eindruck vermitteln, du seiest eine seriöse, ernsthafte Persönlichkeit. Zwar käme kein Mensch auf Journalist, denn welcher Journalist, denken die Menschen, sieht schon wirklich durch. Aber mit Brille giltst du wohl unterbewusstseinsmäßig als einer, der hin und wieder ein wenig Durchblick benötigt, wohl gar Gedrucktes betrachtet. Es muss auch damit zu tun haben, dass mir die tägliche Redaktionskonferenz den Eindruck vermittelt, mich in einer Runde sehr ernsthafter, sehr seriöser Persönlichkeiten aufhalten zu dürfen.
Schließlich und endlich ist die Brille, wie die Uhr, eine Art Schmuck für Männer, die eigentlich keinen Schmuck wollen, irgendwie aber doch, so klammheimlich, so dass es keiner merkt. Nur abgedunkelte Sonnenbrillen für Jungs, das geht gar nicht, das ist sowas von Ich-bin-so-ein-cooler-Typ. Das ist sowas von bescheuert. Das geht nur im Auto. Dann sagt die Dame auf dem Nebensitz so spitzmundig-fröhlich: Don Mariano weiß von nichts. Und Don Mariano sagt auch nichts und beobachtet lediglich aufmerksam die Straße.
Da vorne irgendwo müssen die Bullen sein.