15. Jahrgang | Nummer 11 | 28. Mai 2012

Erbstücke

von Erhard Weinholz

Sechs Geschwister waren es, sechs lange, schmale Handtücher aus derbem Leinen und mit roter Stickerei verziert, der Nummer und dem Monogramm A. D. Es steht für Anna Densch, und das ist der Mädchenname meiner Großmutter väterlicherseits, 1896 in der Nähe von Bromberg/Bydgoszcz geboren. Ihre Vorfahren mütterlicherseits stammten aber aus ganz anderer Gegend: Es waren Salzburger, Salzburger Protestanten, die 1730/31 das Land auf Geheiß des Erzbischofs Leopold Anton hatten verlassen müssen. Denn sie hatten sich geweigert, katholisch zu werden. Das stets bevölkerungshungrige Preußen nahm das Gros der Auswanderer auf.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges fiel das Bromberger Gebiet an die Republik Polen; diesmal hätte die Familie, um bleiben zu können, die polnische Staatsangehörigkeit annehmen müssen. 1920 siedelte meine Urgroßmutter Lina, die damals schon von Witwenrente lebte, mit ihren vier Töchtern nach Brandenburg/H. über. Spätestens zu dieser Zeit müssen die sechs Handtücher genäht und bestickt worden sein, denn im gleichen Jahr heiratete Anna den verabschiedeten Vize-Feldwebel Hermann Weinholz, meinen Großvater väterlicherseits. Die Aussteuer wird gering gewesen sein, vielleicht war es nur dieses bestickte Leinen. Doch auch das hat meine Großmutter nie benutzt. Fand sie die Tücher zu schade für den alltäglichen Gebrauch? Ein halbes Jahrhundert lagen sie im Schrank, dann erbte sie mein Vater. Sie waren aber erheblich länger als der Vorhang des Handtuchhalters in der Küche bei uns zu Hause, und so blieben sie weiter im Schrank. Schließlich nahm ich mir drei davon, dazu einige ebenfalls zu lange baumwollene DDR-Tücher. Während diese inzwischen arg verschlissen sind, haben sich die Leinentücher bestens gehalten. Vielleicht werde ich irgendwann einer Nichte oder einem Neffen oder einem von ihren Kindern erklären, was das Monogramm A. D. bedeutet und wer die Salzburger waren.

„Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut“, schrieb Goethe mit Blick auf seine Sammlungen, „schließt ein neues Organ in uns auf.“ Von den alten Kleiderbügeln mit Inschrift, die ich über viele Jahre gesammelt habe, will ich das nicht unbedingt behaupten. Doch zumindest erschließt mir einer von ihnen ein Stück unserer Familiengeschichte. Im Unterschied zu den anderen ist er von Hand, mit Bleistift beschriftet: „Ruth Vollmer Klasse 6b“. In die sechste Klasse gekommen war Ruth Vollmer, meine Mutter, im Jahre 1936. Die Familie wohnte zu der Zeit schon seit längerem nahe beim Neuendorfer Sand, einer öden Gegend, deren größter Teil bald den reichseigenen Brandenburger Arado-Werken als Flugplatz diente. In den zwanziger Jahren waren hier, am Westrand der Stadt, sehr billige, typisierte Eigenheime entstanden, doch selbst so ein halbes Haus nebst sandigem Grundstück hatten meine Großeltern nur mit finanzieller Unterstützung eines Berliner Verwandten erwerben können. Großmutter Lucie, als junge Frau eine Schönheit, sah nach zehn Jahren Ehe müde und verbraucht aus; immer fehlte es an diesem und jenem, immer musste geknausert werden. Sogar den Kleiderbügel hatte man nicht fertig gekauft: Das Loch für den Haken wurde, wie es aussieht, von Hand gebohrt, ein dicker Drahtstift war dann durchgezogen und S-förmig umgebogen worden.
Bei aller Ärmlichkeit gab es aber den Drang zum Höheren, im ideellen Sinne wie im sozialen, und so fand in der Guten Stube ein Klavier seinen Platz. Es erwies sich als Fehlanschaffung: Meine Mutter sang zwar gern und gut, doch aus den Klavierstunden bei Bruder Buchholz von der freikirchlichen Gemeinde erwuchs nur Mühe, nie Vergnügen; die Fähigkeiten einer höheren Tochter waren zudem bald ohnehin nicht mehr gefragt. Das Instrument stand nun ungenutzt in der Ecke, und nur wir Kinder der nächsten Generation klimperten gelegentlich dumm darauf herum. Hätte man das Geld damals besser in Suppenhühnern und guter Leberwurst anlegen sollen? Das ist schwer zu sagen. Von meiner Mutter weiß ich, dass man es sich im Leben nicht zu leicht machen soll.

Die große Silberschale wurde sie von meinen Eltern genannt: eine matt glänzende Metallschale, die Seiten je vierzig Zentimeter messend, mit flachem Boden und hohem Rand. Natürlich war sie nicht aus Silber, sondern aus Stahl: V2A ist in das Blech eingestanzt, daneben die Jahreszahl 1941. V2A, das war ein rostfreier Edelstahl; wahrscheinlich stammt das Stück aus den Brandenburger Flick-Werken, wo mein Großvater Hermann als Meister in der Werkzeugmacherei arbeitete. Flick war eine Waffenschmiede, hatte aber wohl auch für die Bevölkerung gefertigt. Oder hatte man im Sommer 1945 noch versucht, mit letzten Materialbeständen eine Friedensproduktion in Gang zu bringen? War die Schale vielleicht eine Hochzeitsgabe? Auch einen Wassereimer bekamen meine Eltern geschenkt, als sie im August 1948 – nach Kirchenaustritt – heirateten. Das Stahlwerk war zu der Zeit schon demontiert. Mein Vater, nach kurzem Studium Geschichtslehrer, besaß noch Bögen mit Diagrammen, die die Entwicklung des Betriebes in den Kriegsjahren zeigten. Er nutzte die leeren Rückseiten davon als Notizpapier.
Bald entstand auf dem einstigen Flick-Gelände ein neues Stahlwerk, direkt gegenüber dem Hause, in dem wir wohnten. War der Tagesplan erfüllt, leuchtete über dem Hauptportal der Hallen ein großer, roter Stern. Doch da das aus Stalin-/Eisenhüttenstadt kommende Roheisen erst wieder geschmolzen werden musste, lagen die Kosten über denen konkurrierender Erzeuger. Trotzdem wurden immer wieder, wenn die Devisen gar zu knapp wurden, Tausende Tonnen zu Preisen weit unter Weltmarktniveau in den Westen verkauft.
1993 gab es den letzten Abstich. Für die riesige Ofenhalle zwar fanden sich neue Nutzer, doch von den weithin sichtbaren Schornsteinen, die die Stadt bald vierzig Jahre im Wappen geführt hatte, blieb nicht einer. Als Kind und auch später noch war ich von diesen Anlagen fasziniert; besonders geliebt hatte ich den Blick vom Garten nahe beim Neuendorfer Sand hinüber zum Werk: im Vordergrund ein halb ländliches Idyll, Obstbäume, Schuppen, Bretterzäune, weiter hinten die roten Dächer der Siedlungshäuser, zuletzt dann, alles überragend, die Riesenbauten der Industrie. Nach den Abrissen kam mir die Gegend dort draußen öde und charakterlos vor.
Etwa zehn Jahre darauf, nach dem Tode meiner Mutter, überließ mein Vater mir die große Silberschale. Manchmal fahren meine Frau und ich im Frühherbst an den östlichen Berliner Stadtrand und sammeln in verlassenen, verwilderten Gärten Falläpfel. Wenn wir dann mit vollen Beuteln zurückgekehrt sind, wird die Schale noch einmal hervorgeholt.