14. Jahrgang | Sonderausgabe | 21. Mai 2012

Charmante Empörung

von Kai Agthe

Er ist im besten Sinne von Nietzsches Diktum ein „guter Europäer“: Stéphane Hessel. Der 1917 in Berlin geborene Diplomat, der 1924 mit seinen Eltern nach Paris zog und 1937 die französische Staatsbürgerschaft annahm, ist in den letzten Jahren in ganz Europa zu einer Ikone des friedlichen Protests gegen die Globalisierung geworden. Und das allein durch die beiden schmalen Broschüren „Empört euch!“ (2010) und „Engagiert Euch!“ (2011). Mit über 90 Jahren und politischen Traktaten Bestseller zu landen, das ist schon eine reife Leistung.
Stéphane Hessel legte 1997, damals 80 Jahre alt, seine „Tanz mit dem Jahrhundert“ betitelte Autobiografie vor, die fünf Jahre später erstmals auf Deutsch und 2011 auch als Taschenbuch erschien. Manfred Flügge, der Leben und Werk Stéphane Hessels seit vielen Jahren als Buch- und Filmautor begleitet, hat über den Deutsch-Franzosen, der im Oktober sein 95. Lebensjahr vollenden wird, unter der Überschrift „Ein glücklicher Rebell“ eine Biografie veröffentlicht.
Der Autor setzt in seiner Darstellung über Stéphane Hessel zunächst in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein. Als Mitglied der Resistance wurde Stéphane Hessel 1944 in Paris verhaftet und nach Deutschland deportiert. Er durchlitt und überstand verschiedene KZ, so unter anderem. Buchenwald und Mittelbau Dora. Für die Exekution vorgesehen, überlebte Hessel auf dem Ettersberg nur, weil er auf Betreiben von Eugen Kogon – dem späteren Autor des Buches „Der SS-Staat“ – die Identität eines verstorbenen Franzosen annehmen konnte. Nach der Befreiung begann Stéphane Hessel 1946 eine rasante Karriere im diplomatischen Dienst für die Französische Republik bei der UNO. Vier Jahrzehnte war Hessel mit nicht nachlassender Leidenschaft als Diplomat tätig. Auch nach seiner Pensionierung ist er nicht müde geworden, weltweit diplomatisch zu wirken. Was etwa die Leser der Zeitung „Le Monde“ honorierten und ihn, knapp vor der deutschen Kanzlerin, 2011 zur Persönlichkeit des Jahres wählten.
Noch detaillierter als in Stéphane Hessels Autobiografie erhalten wir bei Manfred Flügge einen Einblick in die Familiengeschichte. Stéphane Hessel ist der Sohn des jüdischen Dichters Franz Hessel, der als „Berliner Flaneur“ durch die Literaturgeschichte des 20. Jahrhundert streift. Durch seinen Vater lernte Stéphane u.a. den Philosophen Walter Benjamin kennen und schätzen. Hessels Eltern führten eine unkonventionelle Ehe. So kam es, dass Franz und Helen Hessel die Vorlage für den Roman „Jules et Jim“ von Henri-Pierre Roché abgaben, den Francois Truffaut 1962 verfilmte. Auch über Hessels älteren Bruder Ulrich, der körperlich behindert war und 2003 mit 89 Jahren starb, erfährt man in Flügges Buch erstmals Näheres
Flügge verschweigt nicht, dass Hessel die französische Nation in einem zentralen Punkt spaltet: Wegen seiner harten Verurteilung der Politik Israel einerseits und seiner als unkritisch empfundenen Parteinahme für die Palästinenser andererseits. Es spricht für den Biografen, dass er in diesem Punkt nicht nur Freunde, sondern auch Kritiker Stéphane Hessels zitiert.
Dessen Lebenselexier war und ist die Lyrik, die ihm auch und gerade in dunklen Zeiten Kraft gespendet hat. Sein Bestreben ist es, seinem Alter gemäß eine adäquate Zahl von Gedichten auswendig aufsagen zu können. Hat man Hessel je Verse auf Deutsch, Französisch und Englisch zitieren hören, versteht man, dass es Menschen gibt, für die Poesie so unentbehrlich ist wie die Luft zum Atmen. Und wer ihn im Fernsehen sieht, wird nicht nur von der geistigen Frische des Greises überrascht sein, sondern auch von dem Umstand, dass politischer Protest und gesellschaftliche Empörung wohl selten so charmant formuliert wurden. „Ich sehe mich“, lautet Stéphane Hessels Selbsteinschätzung, „weder als Weisen noch als Ikone, sondern nur als einen alten Herrn mit einer sehr langen Erfahrung.“ Wir dürfen sicher sein, dass wir von diesem in Würde ergrauten, klugen und lebenserfahrenen Herrn aus Paris noch hören werden.

Manfred Flügge: Stéphane Hessel. Ein glücklicher Rebell, Aufbau Verlag, Berlin 2012, 271 Seiten,
22,99 Euro