15. Jahrgang | Nummer 9 | 30. April 2012

Der Ruf der Kassandra

von Harry Popow

Evelyn Hecht-Galinski nimmt den Staat Israel in den Fokus. Sie bestreitet nicht dessen Existenzberechtigung. Sie empört sich über das Unrecht, das von ihm ausgeht. Sie entlarvt in ihrem neuesten Buch das völkerrechtswidrige Tun Israels gegenüber den Palästinensern. Sie sticht zu, wenn es nötig ist, sie analysiert genau, sie betrachtet die Konflikte komplex, sie schlägt einen Bogen zur Mitverantwortung der nur zuschauenden Welt, besonders der Deutschen. Sie wehrt sich entschieden gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Sie attackiert kleinkarierte Wadenbeißer, die unter der vorgegebenen „Staatsräson“ sich den Israelis anbiedern. Und sie wirft dies schmähliche Gebaren nahezu allen etablierten deutschen Parteien vor. Lob und Dank, begleitet von Herzenswärme, findet sie für Gleichgesinnte, die im Namen des Völkerrechts und der Humanität an der Seite Palästinas stehen, die mit Recht Widerstand leisten, ohne auch deren Fehler zu übersehen und kleinzureden.
Hecht-Galinski ist Deutsche mit jüdischer Herkunft, Tochter des einstigen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski (1912-1992). Ihr Motiv: „Ich habe mir das Lebensmotiv meines Vaters zu eigen gemacht: ‚Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu neuem Unrecht zu schweigen.’“
Leuchten wir näher in ihren Text hinein. Mit welcher Herzenswärme, mit wieviel verinnerlichter Menschlichkeit die unabhängige parteilose Bürgerin das Leid der Palästinenser beschreibt – das geht sehr nahe. Es gehe um einen Konflikt, schreibt sie, „der eigentlich gar keiner zu sein bräuchte, da Israel ganz relaxt in den anerkannten Grenzen von 1967 völkerrechtskonform in Frieden mit seinen Nachbarn existieren könnte.“ Sie liefert die Zahlen: Zwischen 1967 und 1994 wurden etwa 140.000 Palästinenser vertrieben, indem ihnen das Aufenthaltsrecht entzogen wurde. 14.000 Einwohnern Ostjerusalems ging es ebenso. Die Siedler – über 300.000 – kontrollieren bereits 42 Prozent des Palästinensergebietes. 2.700 neue Wohneinheiten seien geplant. Man spreche vom „größten Freiluftgefängnis der Welt“. Nicht zu vergessen die „über 10.000 palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen – unter ihnen auch Frauen, Kinder und alte Menschen.“ Seit 1967 wurden 700.000 Menschen verhaftet, die zum Teil bis heute auf ihre Gerichtsverfahren warten. Warentransporte würden nur nach „Lust und Laune“ nach Gaza gelassen. Gewährleistet seien weder Strom noch Wasser, noch medizinische Versorgung. 40.000 Kinder seien nicht eingeschult worden, da Schulen wegen fehlenden Baumaterials nicht gebaut werden konnten. „1,5 Millionen eingeschlossene Palästinenser im Gaza-Streifen und 1.400 Tote bei der ‚Operation Gegossenes Blut’ klagen uns an“, schreibt die Autorin Die Unterschiede zwischen palästinensischen Dörfern und den jüdischen Siedlungen: Wellblechhütten, Zelte, Geröllstraßen und Schlamm. Daneben: Geteerte Straßen, Blumenbeete und Palmenhaine.
Israel, so charakterisiert die deutsch-jüdische Querdenkerin den Staat, sei heute keinesfalls das arme kleine, von Feinden umzingelte Land. Im Gegenteil, es gehöre zu den hochgerüsteten Militärmächten, die sich nicht scheuen, anderen Staaten mit einem Präventivschlag – auch atomar – zu drohen. Israel existiere seit 63 Jahren auf ehemaligem palästinensischem und seit 44 Jahren auf unrechtmäßig dazugeraubtem Land. Es halte dieses Land widerrechtlich besetzt und den Palästinensern entziehe es seine grundlegenden Rechte, seine Freiheit und Unabhängigkeit. Das gehöre vor das Haager Kriegstribunal, so Evelyn Hecht-Galinski. Israel schaffe Tatsachen mit der „Abrissbirne“, man siedele und baue weiter, die „ethnische Säuberung“ halte an. Über 50.000 neue Wohnungen – natürlich nur für jüdische Käufer und Mieter. Palästinenser bräuchten keine Wohnungen. Für sie wurden seit 1967 nur zirka 600 Appartements gebaut, obwohl mindestens 40.000 gebraucht werden. Eine weitere Enthüllung: Israel sei ein Meister im Tarnen und Verschleiern, wenn es zum Beispiel um das Atomprogramm in Dimona gehe, meint die Autorin. Israel findet Unterstützung von AIPAC, der größten Israel-Lobby in den USA. Jahresbudget: 70 Millionen US-Dollar. Die Autorin warnt vor einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Iran. Und sie lässt keinen Zweifel: Dieser Angriffskrieg wäre nur möglich auch durch die Waffenlieferungen der Schutzmacht USA. Dem deutschen Verteidigungsminister hält sie vor, folgende Aussage von Kanzlerin Merkel ungenügend als unzutreffend entkräftet zu haben: Merkel habe geäußert, die Sicherheit Israels sei als deutsche Staatsräson zu betrachten und Deutschland sei im Ernstfall bereit Israel, wenn es den Iran angreifen sollte, zu unterstützen. Und wer klage die Hamas einseitig als schuldig an? Verwechsele die Kanzlerin da nicht Ursache und Wirkung? Die vollständige Blockade Gazas sei die Ursache, die Wirkung die Kassam-Raketen. Das Grundgesetz sei mit der so proklamierten Staatsräson nicht vereinbar. Weiter: Die würdigste Form der Holocaust-Erinnerung: Sich das Recht nehmen als Deutsche, aktuelle Verbrechen anzuprangern. Die scharfsichtige Autorin polemisiert, es gehe nicht darum, einseitig und parteiisch zu sein, sondern um Recht und Unrecht. Mit der angeblichen „Selbstverteidigung“ Israels, verhöhne es die Völker. Wenn Politiker Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtfertigen, dann geißelt Hecht-Galinski deren „vorauseilenden Gehorsam“. Auf den Vorwurf, jede Israel-Kritik sei als Antisemitismus zu bewerten äußert Evelyn Hecht-Galinski: „Ich bemerke auch immer mehr, dass diese schleichende Politik der Verdummung in Deutschland ihre Wirkung zeigt. Die Bevölkerung weiß immer weniger über die wirklichen Zusammenhänge dieser politischen Intrigen Bescheid.“
Und sie scheut sich auch nicht, die Ursachen ohne Wenn und Aber beim Namen zu nennen: Sie kreidet die Verlogenheit der gesamten westlichen Politik in dieser Region an, die „primär von Wirtschaftinteressen bestimmt ist“. Sie warnt, durch die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen sowie die Kriegsdrohungen und Angriffe, die man dem jüdischen Staat durchgehen lasse, „wird die internationale Politik massiv in Gefahr gebracht“.
Ihre Sprache: Locker, sehr persönlich, sehr emotional, überaus engagiert, teilweise mit Wut im Bauch – warum nicht? Es überwiegen kurze Sätze mit hoher Anschaulichkeit. Dafür sorgen unter anderem die immer wiederkehrenden bohrenden Fragen – an die Politik, an die Bürger, an sich selbst. Im Nachwort stellt Gilad Atzmon fest, die Humanistin Evelyn Hecht-Galinski erhebe ihre unschätzbare Stimme nicht als Einzelperson, sondern geselle „sich zu der wachsenden Zahl von Juden, die sich von ‚Stammesdenken’, Chauvinisnus, Überlegenheitsdünkel und Auserwählten verabschiedet haben.“
Wer ihr Buch gelesen hat, wird es bereichert zur Seite legen – erkenntnismäßig, gefühlsmäßig. Und wiederholt hineinsehen müssen, wenn „Anstalten“ wieder einmal die Wahrheit auf den Kopf stellen. Ganz gewiss wird die Lektüre der Schrift dieser mutigen und politisch hellwachen Kassandra für Anbeter der „Heiligen Kühe“, für Politiker mit „vorauseilendem Gehorsam“, wie die Autorin schreibt, kein wahrer Genuß sein.

Evelyn Hecht-Galinski: Das elfte Gebot: Israel darf alles, Palmyra Verlag, Heidelberg 2012, 224 S., 17,90 Euro