15. Jahrgang | Nummer 9 | 30. April 2012

Aphrodites Insel

von Renate Hoffmann

Euripides (um 480-406 v.Chr.) gab ihr diesen Namen, der schönen, vielgesichtigen Insel im südöstlichen Mittelmeer. Zypern. Im begehrlichen Blick dreier Kontinente – Asien, Afrika, Europa – gelegen. Historisch gebeutelt. Strategischer Vorposten, Fluchtort, Schatzinsel mit Reichtümern unter und über der Erde; Vorteile, die seit jeher Begierden weckten.
Phöniker und Griechen gingen über sie hinweg; Assyrer, Ägypter, Perser fielen ein. Zypern wurde römisch, byzantinisch; der Templer-Orden trat auf. Franken und Venezianer kamen, Türken und Engländer. Sie alle hinterließen beredte Zeugnisse ihrer Kulturen und der verursachten Leiden. – Die Insel und ihre Hauptstadt Lefkosia (Nikosia) sind geteilt.
Mythologie und Vergangenheit begleiten auf den Wegen durch die wechselvolle Landschaft.
Da Aphrodite, Vorzugsgöttin der Insel, allüberall ihren Auftritt hat, tut man gut daran, bei Homer und Ovid nachzulesen. Respektlosigkeit erzürnt die Göttliche! Ovid lässt sie persönlich über ihren Geburtsvorgang Auskunft geben (Metamorphosen): „Ich bin doch dereinst aus dem Schaume erwachsen / Tief in der Flut; noch trag ich den Namen davon, der mir lieb ist.“ Die „Schaumgeborene“.
Danach, so Homer, blies sie „des Zephyros schwellender Windhauch sanft auf der Woge des vielaufrauschenden Meeres“ an das Gestade von Kypros. Dort gefiel es ihr. Nach Problemen mit ihrem Ehemann Hephaistos verschwand sie. Und wohin? „Sie aber ging, die lächelnde Aphrodite, nach Kypros / Hin nach Paphos, wo ihr Bezirk und duftender Altar“ (Odyssee). Unter ihrem Schwebeschritt wuchsen Anemonen (als ich durch die Berge fuhr, blühten sie in Fülle). Sperling und Taube umflatterten die attraktive Schöne. Der Sperling? … nun, ja. – Man versteht, dass die Göttin in zyprischen Gefilden webt und waltet, und Küstenstreifen, Hügel, Fels, Gärten, Bäder ihren Namen tragen. Auch ist bekannt, wo Zephir sie ans Land wehte.
Von Lemesos (Limassol), der zweitgrößten Inselstadt, führt die Küstenstraße westwärts an einer majestätisch aus dem Meer aufragenden Felsengruppe vorbei. Petra tou Romiou. Hier geschah es. – Türkisfarbenes Wasser, dessen Tönung sich irgendwo im Blau des Morgenhimmels verliert. Schmale Schaumstreifen am Strand, und die schwankende Spiegelung der gelben Felsen in den Wellen. Angemessener Ort für Aphrodites Landgang. Hernach schritt sie über blumige Halden zur Höhe hinauf, wo ihr die Zyprer ein Heiligtum errichteten. Es lag im 12. Jahrhundert. v .Chr. in Paläpaphos („ihr Bezirk und duftender Altar”).
Von dort ist es nicht weit bis zur lebhaften Stadt Paphos, die sich vom Hafen bis in die nahen Berge dehnt. Bauten aus der englischen Kolonialzeit, ein römisches Forum, Erinnerungsstätten an die Missionsreise des Apostels Paulus. Palmen, Parkanlagen und reges Treiben der Gegenwart. Eine Stadt, die im geistigen und gesellschaftlichen Leben der Republik hohes Ansehen genießt.
Das Juwel aus der Vergangenheit (Weltkulturerbe), durch Zufall entdeckt und wieder zum Leuchten gebracht, sind die Mosaiken von Nea Paphos, der verschwundenen Stadt aus dem Altertum. Dem römischen Imperium einverleibt, kam sie zu Wohlhabenheit und Reichtum. Ich betrete eine der freigelegten stattlichen Villen, oder was von ihr übrig blieb. Das „Haus des Dionysos“. So benannt nach den mehrfach vorgefundenen Szenen mit dem lustvollen Gott. Aufgeführt in meisterlicher Mosaikarbeit, komponiert in bildhafter Sprache. Die Kunstwerke schmücken die Böden wie kostbare Teppiche und gleichen einem Buch, in dem sich die Geschichten aneinander reihen.
Neben Dionysos’ triumphalem Aufzug, in dem Zimbeln und Posaunen erschallen, begegnet man Narziss, der, in sich selbst verliebt, mit seinem Spiegelbild im Teiche tändelt. Daphne, die schöne Nymphe, die vor den Nachstellungen Apollons flieht und – auf ihr Bitten hin – in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. Ein Schleier umflattert sie und zeigt die Eile an. Und dann: „ Es wachsen die Haare zu Blättern, zu Zweigen die Arme; / Auch die Füße, soeben so rasch noch, sie hangen in trägen Wurzeln … was bleibt, ist die glänzende Schönheit“ (Ovid). Und so folgt Bild auf Bild, umrandet von geometrischen, plastisch wirkenden Bändern, auf denen sich unbekümmert zwei junge Katzen räkeln.
Von der Küste in die Berge. – Zitrusduft liegt in der Luft. Im dunkelgrünen Laub der Plantagen nisten orangefarbene Knöpfchen und erwarten die Ernte. Weingärten schwingen in Terrassen die Hänge hinauf. Rosmarin blüht, wilder Fenchel säumt Straßen und Wege. Dunkles Vulkangestein wechselt mit hellen Kalkbergen. Die Dörfer, hingehuscht in schmale Täler und Winkel. Unter ihnen das uralte denkmalgeschützte Fikardou, welches tausend Jahre hinter dem Mond lebe, heißt es. Man möchte auf leisen Sohlen durch seine stillestehende Zeit gehen.
Klöster und Kirchen und Legenden. Zwischen das Silbergrau der Olivengärten drängt schon die Mandelblüte und überzieht die Täler wie feingestickte Tücher aus Lefkara. Auf den Bergkuppen liegt Schnee. Weitblicke schweifen hinüber zum Meer und hinunter in die Mesaoria-Ebene mit der großen geteilten Stadt Lefkosia.
Ehe man sie besucht, eine kurze Rückbesinnung: 1960 – Unabhängige Republik Zypern. 1964 – Entsendung einer UNO-Friedenstruppe. 1974 – Besetzung des nördlichen Inselteils durch türkische Truppen. 1983 – Ausschließlich von der Türkei proklamierte und anerkannte Republik Nordzypern (TRNZ). 2004 – Mitgliedschaft der Republik Zypern (Süden) in der EU. „Green-Line“ – Grenze und Pufferzone zwischen beiden Landesteilen, kontrolliert von der UNO-Friedenstruppe.
Durch den mächtigen Mauerring der Venezianer in die Altstadt. Breite verkehrsreiche Straßen, Gassen und Gässchen und Läden voller Allerweltskrimskrams. Einladende kleine Cafés. Vor dem Erzbischöflichen Palast steht, imposant und in vollem Ornat, der erste Präsident der Republik und oberster Vertreter der zyprisch-orthodoxen Kirche, Makarios III. (1913-1977), der die Großmächte über lange Zeit in Atem hielt.
In der Johannis-Kathedrale neben dem Palast lebt die Bilderwelt der Orthodoxie. Über und über mit biblischen Szenen und Heiligen bemalt, werden Blick und Sinne zur vergoldeten Ikonostase geführt. Ihr Glanz blendet.
Die Selimiye-Moschee, alias Sophien-Kathedrale, dieses architektonische Mischwerk zweier Religionen, wollte ich sehen. Um in den türkischen Stadtteil zu gelangen, passiere ich die „Grüne Linie“ am Checkpoint Lidra Street. Durchlässiger Stacheldraht und Parolen an den leeren, dem Verfall preisgegebenen Häusern kennzeichnen sie. – In der „Hagia Sophia“ umfängt mich himmelstürmende französische Gotik. Weiße Schmucklosigkeit, arabische Schriftzeichen und Embleme mit Halbmond und Stern irritieren in dieser Umgebung. Die zyprischen Herrscher aus dem Hause der Lusignans ließen das Meisterwerk im 13. Jahrhundert bauen. Nach der türkischen Invasion (1571) erhielten die unvollendet gebliebenen Westtürme Minarette. Seltsames, widersinniges Aufeinandertreffen.
Unverstellte Gotik hingegen findet man im nordzyprischen Bellapais. Nur wenige Kilometer von der Hafenstadt Kerinia entfernt und an die Hänge der Pentadaktilosberge gelehnt, liegen Ortschaft und Abtei. Lawrence Durrell (1912-1990), englischer Schriftsteller, der in den 50er Jahren dort lebte und das Dorf zum Schauplatz seines Buches „Bittere Limonen“ wählte, erzählt: „Ich war auf etwas Schönes gefaßt, denn ich wußte bereits, daß das verfallene Kloster von Bellapaix eins der bezauberndsten gotischen Überbleibsel der Levante („Morgenland“ – d.A.) ist, aber ich war nicht auf die atemberaubende Harmonie mit dem kleinen Ort gefasst“.
Die Spitzbögen des Kreuzgangs, mit Resten des filigranen Maßwerks, stehen wie eine Zierleiste vor den alten Mauern. Hohe Zypressen im Innenhof betonen die Ehrwürde des Areals. Der klar gegliederte Raum des gut erhaltenen Refektoriums offenbart den Sinngehalt gotischer Baukunst. Durch die Fenster schaut man in blaue Fernen.
Auf dem Platz vor der Klosterruine, umgeben von Taverne, Café, spielenden Kindern und Eisverkauf steht der „Baum des Müßiggangs“. Zu Durrells Zeiten war es ein Maulbeerbaum. Wer in seinem Schatten saß, der blieb; verweilend im wohligen Gefühl des Nichtstuns. Der begehrte Schattenspender fand natürlich in unseren Tagen seine Nachfolge. Und ich vermute, dass Durrell damals unter diesem Baum den klugen Gedanken fasste: „Das Glück beruht oft nur auf dem Entschluss, glücklich zu sein.“