15. Jahrgang | Nummer 7 | 2. April 2012

Mir nach, Canaillen!

von Korff

Ohne im Rätsellöser nachschlagen zu müssen: Dies ist der Titel eines Mantel-und-Degen-Films der DEFA von 1964 unter Regie von Ralf Kirsten mit einem besonders prominenten Schauspieler (nicht Hans-Peter Korff, wenn auch naheliegend!).
In den gebildeten Ständen zitiert man häufig diese ausführlichere Fassung zum Begriff: „Ein zuckersüßes Brüderchen! In der That! – Franz heißt die Canaille?“, aus dem Sprachschatz von Schiller. Auch Thomas Mann und Marcel Proust bedienten sich dieser Metapher, so dass man davon ausgehen kann, hierbei handelt es sich inzwischen sowohl um einen Bildungsnachweis als auch ein literarisches Bild, das nicht unbedingt 1 : 1 zu nehmen ist, bei gutem Willen jedenfalls. Geht auch als Geflunker. Freilich bleibt als Kern, anders herum betrachtet: Man kann auch Canaille sein, ohne Franz zu heißen.
Was den Berliner Grünen-Politiker Dirk Behrendt (nach Zeitungstext mit weiterem Vornamen „Fundi“, was Korff komisch findet) offenbar dazu veranlasste, bei einer Frage an Klaus Wowereit auf den in Rede stehenden Ausruf zurückzugreifen. Möglicherweise in Fehleinschätzung, bei und mit Herrn Wowereit könne man auf einen Schelm anderthalbe setzen. Jedenfalls murmelte Behrendt in diesem Zusammenhang etwas von „Schmidt“ und „heißt die Kanaille“.
Für Korff eine lässliche Fehlleistung angesichts der obigen Ausführungen zur Genesis und zum  umgangssprachlichen Gebrauch des Spruches, wenn man will also als Zitat.
Die aber unmissverständliche Sachfrage lautete dann: „Welche geschäftlichen Beziehungen hat es zwischen Berlin und Herrn Schmidt  gegeben?“ Und: „Wer hat die Anreise und den Aufenthalt in der Finca bezahlt?“
Und wie reagierte der üblicherweise als cool und locker, nachgerade als elegant apostrophierte Regierende darauf? Nachgerade bockig – bei Sponsoren-Freunden hat sein Spaß offenbar nicht mal einen Anfang. „Wowereit“, laut Morgenpost, „beantwortete die Frage nicht; aber er beschwerte sich, dass der Grünen-Abgeordnete Schmidt als ‘Kanaille’ bezeichnet hatte. Schmidts Veranstaltungen seien ‘für mich und Berlin’‚ wichtig gewesen, so Wowereit. ‘er war ein erfolgreicher Veranstalter, der mit hoher Professionalität gearbeitet hat. Das sollte man auch deutlich machen. Das steht im Vordergrund’“.
So ist es in der politischen Relativitäts-Theorie mit den „Vordergründen“: Da will einer berechtigt etwas Bestimmtes wissen, der andere macht ihn ausweichend auf die Ungehörigkeit der Frage aufmerksam, was zugleich als implizierte Antwort durchgeht, da diese gemäß Chronisten-Bericht unterblieb.
Damit haben wir hier ein treffliches Beispiel für das Prinzip „moderner“ Transparenz.  Nennen wir es vereinfacht das „Wulff-Prinzip“. Natürlich sind Wulff und Wowereit Unikate. Aber sie nutzen das gleiche Wirkmodell, und die Gesellschaft toleriert dies als, ja als was eigentlich – Ausdruck lebendiger Demokratie?
Zum Beispiel: Eigentlich ist es unstreitig und – soweit nicht personalisiert – unstrittig, dass Steuerbetrüger auch mit großem Aufwand identifiziert und bestraft werden sollen. Da kommen nun Unterlagen mit deftigem Volumen auf den Markt, auch von „Idealisten“ ohne Geldforderung. Und die Diskussion in der veröffentlichten Meinung, mehrheitlich in den Leitmedien, dazu? Fokussiert sie auf die „Täter“? Mitnichten – erörtert wird, wie die Beschaffer zu behandeln wären, und dass das Material nicht verwendet werden dürfe, weil möglicherweise krimineller Herkunft. Bei dieser „Rechtslage“ bleibt der Wahrheitsgehalt unerheblich. Gibt’s vielleicht Nutznießer, die von dieser abwegigen Fährte profitieren?
Weiter: Da halfen DDR-Archive mit Unterlagen zur Nazi-Aktivität führender Persönlichkeiten in der BRD. Wurde deren Gehalt genutzt? Mitnichten – am Pranger standen jene, die der Meinung waren (und sind), es hätte doch auch eine Bundesrepublik entstehen können ohne Wiederherstellung von Strukturen aus dem Dritten Reich und ohne deren „willige Vollstrecker“ (Wulf / Poliakow) erneut an der Macht.
Heute, nach fünf Jahrzehnten, „decken“ auch ältere Wissenschaftler, die seinerzeit „begründeten“, warum man dieses zum Teil gerichtsfeste Material aus ideologischen Gründen nicht nutzen durfte, als Wortführer in „neuen“ Dokumentationen die bekannte Durchdringung bundesdeutscher Ministerien und Behörden mit ehemaligen Nazitätern „auf“ und qualifizieren den Sachverhalt mitunter sogar als bedauerlich.
Aber eine Beate Klarsfeld kommt zeitgleich ins Kreuzfeuer, weil sie die die Rückkehr von Funktionsträgern der Nazis an Schaltstellen der Bundesrepublik schon vor Jahrzehnten öffentlich machte, als die Betreffenden noch in höchsten Ämtern saßen. Hat sie etwa Unterlagen gefälscht oder gefälschte in Umlauf gebracht? Was hätte man denn bei der Nachweislage in der causa Kiesinger überhaupt noch fälschen können oder sollen? Das Geschäft betrieb seinerzeit wohl eher Der Spiegel per Entlastungsversuch, Kiesinger habe im Dritten Reich einige journalistische Maßnahmen abgemildert. Und wozu damals eigentlich noch die Kosmetik, wenn der, Kiesinger, doch schon als „unbelastet“ eingestuft worden war? Aber im Ernst: Mit führenden Nazis erneut in führenden Positionen – das war die Regel in der Bundesrepublik; Hitlers Helfer wurden sogar per Grundgesetz für geläutert erklärt und machten Politik „as usual“; Unrechtsbewusstsein, „Aufarbeitung“ störte dabei nur.
Mit diesem Verhalten kommt für Vergangenheit und Gegenwart ein spezifisches Element des „Wulff-Prinzips“ zur Anwendung. Die Verwunderungsmütze wird aufgesetzt: Warum die Aufregung? So etwas oder Vergleichbares war, respektive doch bekannt und damit gleichsam entschuldigt, ohne Konsequenz. Und heute, als „Sieger der Geschichte“, etwa im Büßerhemd herumlaufen?
Vergeben und vergessen gilt nicht zuletzt besonders bei jenen, die dem Wulff-Prinzip unter dem Aspekt der Gegenseitigkeit wohlwollend gegenüberstehen. So haben sich manche auch öffentlich gewundert, warum die SPD-Führung so rücksichtsvoll bei den Attacken gegen den Bundespräsidenten Christian Wulff agierte, und schon gar nicht gegen die Gewährung von Privilegien: Man verwies vielmehr – mit bedauerndem Schulterzucken, versteht sich, –, auf die Gesetzeslage, die nun mal so sei, wie sie ist. Und die gilt dann natürlich auch für Klaus Wowereit, wie Korff sich zu ergänzen gestattet.
Apropos bedauerndes Schulterzucken: Selbst das unterblieb und unterbleibt natürlich in anderen Fällen – wie zum Beispiel beim Treuhandkomplex oder in Verbindung mit „Erinnerungskultur“. Lebendige Demokratie eben. Trotzdem sollte man immer wieder fragen, warum es etwa eine annähernd vergleichbare „Gauckbehörde“ in der BRD zur Aufarbeitung von Naziverbrechen nicht gab – dem späteren Muster adäquat, also unter Leitung eines KZ-Häftlings?
So ins Grübeln gekommen, erinnert Korff eine Geschichte aus dem Schatzkästlein des Johann Peter Hebel (nach dem in Baden-Württemberg alle zwei Jahre  ein bedeutender Literaturpreis ausgeschrieben ist, womit auch Albert Schweitzer und Elias Canetti geehrt wurden): Zwei Droschkenkutscher verabreden sich, zwecks Erhöhung der Trinkgelder einen Streit vor Publikum zu inszenieren, in dessen Verlauf der eine den Passagier des anderen verhaut, was diese Ankündigung des anderen hervorruft: „Du sollst meinen Passagier nicht hauen; er ist mir anvertraut und zahlt honett, oder ich hau den deinen auch.“ Solcherart Dialektik – von Karl Simrock in seinem Gedicht „Die beiden Juden“ (1831) auf den geflügelten Satz gebracht: „Freund, schlägst du meinen Juden, schlag’ ich deinen“ – bringt den erwünschten Erfolg.
Bei dieser Erinnerung wird „Korff“ erneut und nun von heftigem Zweifel befallen: Hat er mit dem „Wulff-Prinzip“ wirklich etwas Neues definiert, oder handelt es sich bei den aktuellen Events bloß um abgeschmackte Neuauflagen aus Zeiten, die uns als längst vergangen, weil vermittels sozialer Marktwirtschaft bewältigt erklärt werden? Jedenfalls wird ihm nachhaltig bewusst: Eigentum verpflichtet – zu Vorteilsgewährung und Vorteilsannahme, selbstredend unter Ansehen von Partei und Person. In diesem Sinne: Mir nach, Canaillen!