15. Jahrgang | Nummer 5 | 5. März 2012

Der Deichgraf und die große Flut

von Kai Agthe

Hauke Haien hat etwas vom alten Faust. Der nordfriesische Deichgraf will dem Meer Land abtrotzen und „die Gemeinde vor des Herrgotts Meer beschützen“. Die Aktivität der Lemuren deutet der blinde Faust als Arbeit am Landgewinn. Tatsächlich schaufeln sie ihm das Grab. In der Novelle „Der Schimmelreiter“, die Theodor Storm kurz vor seinem Tod 1888 beendete, findet Haien mit Frau und Tochter in den Nordseefluten, die nicht zu bändigen sind, den Tod. Diese Gewissheit wird in der Dramatisierung der Erzählung, die jüngst am Theater Naumburg Premiere hatte, etwas relativiert. Das Stück für vier Akteure endet allein mit dem kollektiven und mehrfach wiederholten Schreckensruf, dass die Sturmflut durch die Deiche dringt. „Der Schimmelreiter“ ist eine Uraufführung und Teil des Spielzeit-Leitthemas „Vorsicht Klassik!“
Es gibt gewiss Novellen, die wesentlich leichter zu dramatisieren wären als Theodor Storms „Der Schimmelreiter“. Die drei Erzählebenen der formal schon anspruchsvollen Geschichte in ein Kammerspiel zu transformieren, ist alles andere als eine leichte Herausforderung. Martin Pfaff, der den Text für die Naumburger Bühne eingerichtet hat und auch die Regie führt, löst sie dahingehend, dass er – unter starken Kürzungen – drei Akteure die Rollen mehrfach wechseln und sie Erzählerkommentare sowie Botenberichte sprechen lässt, damit die Fülle an Geschehnissen für das Theaterpublikum verständlich und kontextuell nachvollziehbar bleibt. Das gelingt nicht durchweg, weshalb zu empfehlen ist, den Text vorher noch einmal zu lesen.
Für dieses Stück hat man sich im Theater Naumburg von der Guckkastenbühne gelöst. Ein von unten beleuchteter Bohlen-Deich schlängelt sich durch den Bühnen- und Zuschauerraum. Diese puristische Idee von Bühnenbildner Rainer Holzapfel ist glänzend. So ist das Publikum ein Teil der Inszenierung von Martin Pfaff. Die Hitze der verbalen Reibungen und die Kälte der Gespenstererscheinungen teilt sich durch diese schlichte Raumlösung viel intensiver mit. Und da auf dem Steg viel gerannt beziehungsweise imaginär geritten wird, ist das Stück schweißtreibend und atemberaubend. Letzteres auch für das in jeder Aufführung begeisterte Publikum.
Hauke Haien, der durch Tobias Weishaupt zum nordfriesischen Nerd in Overall wird, ist ein zum Jähzorn neigender Feuerkopf und seinem Vater (in dieser und mehreren anderen Rollen hervorragend: Holger Vandrich) nicht Realist genug. Die mathematische Lehre Euklids liegt Hauke als Kind weit näher als das Spiel mit Altersgenossen. Schon als junger Mensch erklärt  er dem Haien senior apodiktisch: „Unsere Deiche sind nichts wert.“ Ihn fasziniert der Deichbau, den er reformiert, in dem er den Neigungswinkel reduziert. Dass dennoch eines Tages die Urgewalt in Gestalt einer Jahrhundertsturmflut über die Friesen hereinbricht, hat Ursache nicht in den neuen, sondern den dahinter stehenden und vernachlässigten alten Deichen. Aber mögen kann und will man den Mensch Hauke Haien, der so spröde wie Friesland ist, nicht.
Großknecht Ole Peters – dem die zarte Kathrin Blüchert mittels rauer Stimme, wirrem Haar und bärbeißigem Blick rüpelhafte Ausstrahlung gibt – ist Hauke Haiens Widersacher, wenn es darum geht, Nachfolger des verstorbenen Deichgrafen zu werden und gleichzeitig die Gunst von dessen Tochter Elke – die Katja Preuß protestantisch-nordisch-kühl verkörpert – zu erlangen. Hauke gelingt beides: Er wird Deichgraf dank der Verlobung mit Elke. „Nur wer sein Amt regieren kann, der hat es“, so Haien, als er das ersehnte Amt endlich innehat. Zu seinem Markenzeichen wird der Schimmel, der in Naumburg eine kleine Schleich-Figur ist. Obwohl sich alles so trefflich zu fügen scheint, sind die oft zitierten Wasserweiber, Seeteufel und Geister der Ertrunkenen dem Deichgrafen und allem „Lebigen“ nicht günstig. Doch ehe noch der Theaterraum überflutet werden kann, wogt und brandet schon Beifall. Ahoi, Hauke!
Schon das Original des „Schimmelreiters“ zieht seinen Reiz sowohl aus dem jähen Kampf gegen die Urgewalt des Wassers als auch aus dem zähen Ringen der Figuren miteinander. Dank einer großartigen Ensembleleistung ist das nun auch am Theater Naumburg zu erleben.

Nächste Aufführungen am 10., 12., 13. und 14. März.