15. Jahrgang | Nummer 5 | 5. März 2012

Ach, Pompeji

von Renate Hoffmann

Da liegt sie vor mir, die tote, lebendige Ruinenstadt. Lebendig nicht nur, weil Touristen in Scharen durch die Straßen ziehen, sondern weil allüberall der Geist des Ortes waltet. Widergespiegelt in Tempeln, Verwaltungsgebäuden, in Theatern und Bädern, kleinen Bars (die Pompejaner pflegten mittags öfter außer Haus zu speisen). Da sind Handelshäuser, Speicher, Unterkünfte für Reisende. Es gibt Werkstätten mit Geschäftsräumen und dem Verkauf von Leder- und Textilwaren. Im Gebäude der Eumachia am Forum hat das einträgliche Gewerbe der Wollwäscher und Färber seinen Sitz. Am Eingang sieht man eine Amphore. Zweck: Harn-Auffanggefäß. Zur Erleichterung eines gewissen Bedürfnisses, und zum Gebrauch für die Produktionsvorgänge zur Stoffherstellung. – Kaiser Vespasian (9-79 n. Chr.), pfiffig, erließ die Latrinensteuer, um den Schuldenberg seiner Vorgänger abzubauen – „Pecunia non olet!“
Da sind Bäckereien und Mühlen, Spielhöllen und Bordelle. Preis: zwei bis acht Asse (ein Glas Wein – ein As), je nachdem … Da ist auch eine „Soßenfabrik“, klein und fein und mit ihrer Spezialität „Garum“, einer Delikatesse zur Verfeinerung von Gerichten. Rezept: Fischinnereien einweichen, klein schneiden, salzen, in Weidenkörbchen füllen und das Filtrat auffangen. In Pompeji begehrt. Als gewinnbringender Exportartikel sehr geschätzt.
Die Pompejaner hielten Hauswände und Mauern für geeignet, mit Graffiti und Inschriften der „vox populi“ Ausdruck zu verleihen. Wahlpropaganda; Meinungsäußerungen, knapp, treffend, drastisch. Karikaturen und Liebeserklärungen; An- und Verkauf; Werbung für Theateraufführungen. Antike „street-art“ mit Lokalkolorit.
Der Straßenverkehr berücksichtigte auch die Fußgänger. Hohe Bürgersteige schützten vor Wasserfluten – die Stadt liegt am Hügel. In bestimmten Abständen und an Kreuzungen sind große Trittsteine verlegt, falls man die Straßenseite wechseln wollte. Auf dem Forum herrschte Fahrverbot für Fuhrwerke und Karren. – Eine reiche, intelligente Stadt, aber eine schwer geprüfte Stadt.
Am 24. August 79 n. Chr. ereignete sich eine der größten Naturkatastrophen der Antike. Bereits Jahre zuvor (62/63 n. Chr.) erschütterte ein starkes Erdbeben die Orte um den Vesuv und hinterließ schwere Schäden. Man befand sich noch im Wiederaufbau, als an jenem Tag im August eine gewaltige Eruption die Spitze des Vulkans wegsprengte und ihn in zwei Gipfel spaltete. Schlammströme und Lava ergossen sich über das Land, glühende Steine wurden empor geschleudert, eine Aschewolke und giftige Gase breiteten sich aus und erstickten das Leben.
Augenzeuge Plinius d.J. (um 61 n. Chr.-113 oder 115 n. Chr.) berichtet seinem Freund Tacitus: „… Ungefähr um 13 Uhr zeigte meine Mutter … an, dass eine Wolke von ungewöhnlicher Größe als auch Aussehen sich zeigte … sie wuchs wie ein Riesenstamm empor … und verflüchtete sich in die Breite … Wir sahen, dass das Meer zurückflutete … Die furchterregende schwarze Wolke (wurde) von Feuerschein in Zickzacklinien zerrissen und spaltete sich in große Flammengebilde … nicht viel später stieg diese Wolke auf die Erde herab … Es fiel schwere Asche …“
Der Dichter Martial schreibt 88 n. Chr.: „Dies ist der Vesuv, vor kurzem noch grün von Reben; / hier füllte die goldene Traube die Fässer. / … Alles liegt von den Flammen und schrecklichem Feuer begraben! / Nicht einmal die Götter hätten dies wollen können!“
Die begrabene Stadt dehnte sich vor den Unglückstagen auf etwa 66 Hektar aus – und geriet danach mehr oder minder in Vergessenheit. Im 18. Jahrhundert begann ihre Wiedergeburt. Die Ausgrabungen waren für Geschichte und Kunstgeschichte eine Sensation. Diese Nachrichten versetzten unseren Oberklassiker in panische Neugier. Herr Goethe reiste zu den Grabungsstätten.
„Neapel, den 13. März 1787. Sonntag waren wir in Pompeji … Ich weiß nicht leicht etwas Interessanteres. Die Häuser sind klein und eng, aber alle inwendig aufs zierlichste gemalt. Das Stadttor merkwürdig, mit den Gräbern gleich daran (die PORTA ERCOLANO – R.H.). Das Grab einer Priesterin als Bank im Halbzirkel, mit steinerner Lehne, daran die Inschrift (Grab der Priesterin Mamia – R.H.) … Über die Lehne hinaus sieht man das Meer und die untergehende Sonne. Ein herrlicher Platz, des schönen Gedankens wert.“
Ich betrete die Stadt durch die PORTA MARINA, meerseits und leicht bergan gelegen. Der Ginster blüht, Smaragdeidechsen huschen über die Steine. Am Forum vorbei und entlang der VIA DELL’ ABBONDANZA, eine der wichtigsten, belebten, längsten Straßen Pompejis. Haus reiht sich an Haus. Hier wogten Handel und Wandel, hier diskutierte man die Tagespolitik (die Stadtverantwortlichen hatten übrigens Ihre Pflichten unentgeltlich [!] zu erfüllen). Ladengeschäfte, eine Bäckerei, der Brunnen. Das Wasser schmeckt köstlich an diesem heißen Tag. Auf den Fußgänger-Trittsteinen balanciere ich über die Straße, schaue da und dort in die Räume. Teils sind sie überdacht, teils sieht der Himmel herein. Verblasste Malereien an den Wänden. Schützt man die Augen vor dem grellen Licht, so beginnt das Rot, das „Pompejanische Rot“ seine Leuchtkraft zu entfalten.
Hier und da zieren Mosaiken die Böden. Wenngleich oftmals aus einfachen geometrischen Mustern gestaltet, verblüffen sie durch ihre räumliche Wirkung. Farbig glanzvoll und kompositorisch ein Meisterwerk hingegen ist das Fußbodenmosaik in der CASA DEL FAUNO (Haus des tanzenden Fauns). „Die Alexanderschlacht“ (3-3-3 bei Issos Keilerei). Nach mehrmaligem Verläufnis in den Stadtvierteln finde ich die herrschaftliche Villa. Vier Straßen begrenzen sie. HAVE (Willkommen) am Hauszugang lädt den Gast freundlich ein. Die Ausmaße des Wohngrundstücks mit Garten, 2.970 Quadratmeter, lassen den ehemaligen Luxus ahnen. Der namengebende Faun tanzt, stampft und wirft, wohl ein wenig weinselig, die Arme in die Luft; und es ist unverkennbar – er singt. Die kleine Bronzestatue (Kopie) von ansteckender Heiterkeit steht im ATRIUM (Vorhalle) des Hauses.
Während auf dem großen Schlachten-Mosaik die Heerscharen von Alexander und Darius gegeneinander stürmen, birgt ein anderes kleines Werk den Zauber des Details. Drei Tauben machen sich an einer Schmuckschatulle zu schaffen und nutzen die Nachlässigkeit der Hausherrin. Sie vergaß, den Deckel zu schließen. Eine der Diebinnen zieht die Perlenkette heraus, die zweite hilft nach, und die dritte – wartet ab.
In der CASA DEL POETA TRAGICO (Haus des tragischen Dichters) befindet sich die klassische Warnungstafel für alle Haus- und Grundstücksbesitzer mit Hund. Das Bodenmosaik zeigt einen zähnefletschenden, schwarzen, sprungbereiten echten Bastard. CAVE CANEM; großzügig übersetzt: Vorsicht Hund! Ich gestehe, dass ich einen Moment zögerte, näher zu treten. – Dieses Haus nahm E.G. Bulwer-Lytton (1803-1873) in seinem Roman „Die letzten Tage von Pompeji“ als Vorlage für die Villa des Glaucus. Der Schriftsteller hatte die Ausgrabungen besucht und die Stadtstruktur eingehend studiert.
Da alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist, wie Herr Goethe meint, wandere ich zum Friedhof in der Nähe der PORTA ERCOLANO (Herkules Tor) hinaus. Mit dem Geheimrat im Bunde, suche ich nach dem Grab der Venuspriesterin Mamia. Es liegt erhöht an der VIA DELLE TOMBE (Gräberstraße). Stufen aus Quadersteinen, ein Säulenstumpf und die große halbrunde Steinbank. Der Blick ist frei. Ich kann es bestätigen: „Ein herrlicher Platz, des schönen Gedankens wert.“