15. Jahrgang | Nummer 1 | 9. Januar 2012

Theater, Theater

von Renate Hoffmann

Andrea Palladio (1508-1580), der eigentlich Andrea di Pietro della Gondola hieß. „Architetto Vicentino“ – Architekt aus Vicenza. Geboren in Padua als Sohn eines Müllers. Ausgebildet zum Steinmetzen und Bildhauer. Baumeister, Theoretiker seines Faches, Begründer einer Stilrichtung, des „Palladianismus“, welcher die Baukunst entscheidend und nachhaltig prägte. Bedeutender Architekt der Hochrenaissance in Oberitalien. Allein Vicenza, die „Stadt Palladios“, beruft sich auf mehr als zwanzig Bauten in ihrem Weichbild, die er in seiner unverkennbaren Art von Ausgewogenheit und Eleganz entwarf. Er starb am 19. August 1580; die Einen meinen – in Venedig, die Anderen – in Vicenza. Die Grabstätte ist unbekannt.
Seinen letzten Großauftrag, das „Teatro Olimpico“, erhielt er von der in der oberitalienischen Stadt angesiedelten „Academia Olimpica“. Palladio zählte zu ihren Gründungsmitgliedern. Man übertrug dem nunmehr angesehenen und gefragten Architetto und „Mitbruder“ den Bau einer festen und überdachten Spielstätte.
Er, der Zweiundsiebzigjährige, fertigte den genialen Entwurf, in den seine vielfältigen Kenntnisse über den antiken Theaterbau einflossen. Palladio starb wenige Monate vor dem Baubeginn. Vicenzo Scamozzi, ebenfalls Architekt aus Vicenza, übernahm, nach einem Intermezzo von Palladios Sohn Silla, die Weiterführung. Man hatte ihn zuvor bereits für Teilaufgaben nominiert. Er sollte die „Perspektiven am Modell unseres Palladios in schöner und kunstvoller Manier“ gestalten.
Auf, nach Vicenza!
In der Stadt des großen Architekten leitet mich, wie selbstverständlich, der Corso Palladio. Links der Palazzo Valmarana, rechts der Palazzo Pojana und so fort – als stünde der Meister höchstpersönlich am Wege. Alle seine Werke gehören inzwischen zum Weltkulturerbe.
Die Prachtstraße endet an der Piazza Matteotti und an einem scheinbar unscheinbaren Tor. Hindurch. Den stillen Hof mit Skulpturen, Buschwerk und Bänken umstehen hohe Mauern und ein dräuender Turm. Trutzbau, Festung, Gefängnis? Alles trifft zu. Palladio stellte sein Theater in das antike Kastell San Pietro; dort befand sich auch das nicht mehr genutzte  Stadtgefängnis. Es war der einzig verfügbare öffentliche Baugrund. Und es gelang ihm hier ein architektonisches Meisterstück.
Ich trete ein und stehe unter dem illusionären, vom Abendlicht geröteten Himmel, der den Anschein erweckt, man befände sich im Freien. Der Zuschauerraum steigt steil empor. Dass er nicht einem idealen Halbrund entspricht, entdeckt man erst, wenn man es weiß. Er ist elliptisch angelegt, um sich in die schon vorhandenen räumlichen Ausmaße einzupassen.
Die Bühnenfront ragt hoch hinauf. In drei Etagen übereinander angeordnet, wechseln Säulen und Statuen. Ursprünglich sollten mythologische Gestalten das Proszenium schmücken. Männliche und weibliche. Die beauftragten Künstler begannen mit der Arbeit. Doch dann siegte die menschliche Eitelkeit. Die Mitglieder der Akademie und ihre Gönner wollten sich verewigt sehen. So geschah es.
Figuren, die bereits weibliche Proportionen trugen, wurden ein wenig umgeformt. Der Geschlechterwandel vollzog sich jedoch nicht immer korrekt. Man entdeckt bärtige Gesichter auf weiblichem Corpus. Oder den Signor Giambattista Tittoni mit mädchenhaftem Kopf, Halsschmuck und zierlichem, schlankem Körper.
Um dem Wissen und Können der Zeit Rechnung zu tragen, nahm man auch Philosophen, Literaten, Ärzte und Architekten in die stumme Versammlung auf. Palladio ist unter ihnen. Allerdings erhielt er sein Denkmal erst im 18. Jahrhundert. Den Müllerssohn in das Corps von Geld- und Geistesadel aufzunehmen, bereitete gewisse Schwierigkeiten. Seine Statue steht nun auf der Balustrade über dem Zuschauerraum, inmitten anderer Persönlichkeiten.
Das Bühnenbild. Im 16. Jahrhundert entworfen, erstellt und erhalten. Es ist der Blick auf ein antikes Stadtbild (oder wie man dachte, dass es ausgesehen haben könnte). Paläste, Tore, Straßen, die sich in der Ferne verlieren. Einstimmend auf die Eröffnungsveranstaltung am 3. März 1585 mit „König Ödipus“ von Sophokles, soll es die sieben Straßen der Stadt Theben darstellen, in der die Tragödie spielt. – Sphärische Klänge ertönen leise über dem Zauberwerk der Perspektive. Staunend betrachte ich diese Wunderwelt.
Der Hergang des festlichen Tages ist genau dokumentiert. Die Besucher drängten sich schon in der Frühe vor dem Theater und harrten bis zu elf Stunden aus, um Einlass zu erhalten. Etwa 1.500 Zuschauer wären es am Abend gewesen. Man könnte, auf Grund der exakten Angaben in den Annalen der Akademie, den Programmzettel zusammenstellen – Regie: Angelo, Ingegneri. / Bühnenbild und Beleuchtung: Vicenzo Scamozzi. / Chöre: Andrea Gabriele, Organist der Kapelle des Dogen in der Markuskirche, Venedig. / Kostüme: Entwürfe von Giovan Battista Maganza, Maler und Poet. / Darsteller: König Ödipus – Groto, genannt „der Blinde von Adria“; berühmter Schauspieler. / Teiresias – Giovan Battista Verato / Iokaste – ohne Namen (die Tochter des Verato).
Mit „Wein und Früchten“ erfreute man die Gäste. „Ein zarter Duft von Parfums“ und „Musik von weit her aus Stimmen und Instrumenten“ breiteten sich aus. Man war überwältigt vom Bühnenbild, den Lichteffekten, den Raumfluchten.
Dann trat König Ödipus aus seinem Palast und sprach zur versammelten Menge: „O Kinder! Kadmos’, des alten, neuer Stamm! / Was sitzt ihr flehend mir auf diesen Stufen da, / … indes die Stadt von Weihrauch überquillt, / zugleich von Bittgesängen und von Schmerzgestöhn?“ – Im Verlauf kommt das schreckliche Geschehen an den Tag und endet, zur Betroffenheit des Publikums, mit der Selbstblendung des Königs.
Der Erfolg der Aufführung war unbeschreiblich und fand anerkennende Erwähnung in vielen Chroniken. Weit über die Grenzen von Stadt und Land hinaus.