15. Jahrgang | Nummer 1 | 9. Januar 2012

Querbeet (V)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal eine Super-Kugel, viele Super-Kisten, Prekariatsaufstand, Pressbanditen und 600 Schweizer Franken.

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Zwei Türme, der eine grüßt von der Burg mit asiatisch flachem Spitzhut, der andere vom Opernhaus mit neubarock gewuchteter Haube. Zwischen beiden das Tal der Pegnitz mit Bratwürsten, Lebkuchen, Mapamünndi. Mapamünndi? Das ist ein kugelförmiges Objekt, zusammen gesetzt aus zwei Halbkugeln, nicht essbar, weil aus verleimter Leinwand. Der Nürnberger Martin Behaim ließ das Ding anno 1491 bauen und darauf einritzen „das neueste bekannte Antlitz der Erde“. Leider war es wenige Monate später mit der Entdeckung Amerikas schon nicht mehr aktuell. Dennoch ist Behaims Erd-„Apffel“ Mapamünndi der berühmteste Globus der Welt; weil: Er ist der erste. Und einer der vielen Superstars aus Kunst und Handwerk, die das Germanische Nationalmuseum bespielen.
Es rührt das Herz und salbt die Sinne, dieses einzigartige „Generalrepertorium“ deutscher Kultur, das da im verlassenen Kartäuserkloster an der Nürnberger Stadtmauer vor 150 Jahren installiert und von nachfolgenden Generationen mit viel Fleiß, Liebe, Geld gepflegt und mächtig ausgebaut wurde. Ein bestaunenswertes Exempel der Kulturnation – auf wundersame Weise Weltklasse.
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Vielleicht nicht unbedingt Weltklasse, aber auch ein monumentales kulturelles Erbstück, frisch hergerichtet: Der Großkomplex Staatstheater ‑ Opernhaus (Stuck und Gold), Schauspielhaus (Beton und Glas), Funktionsgebäude, Vorplatz (Bäume, Bänke, Richard-Wagner-Denkmal).
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Im Stuckpalast Verdis Melodramma Tragico „Il Corsaro“. Hierzulande selten gespielt (das doofe Libretto), aber Wahnsinnsmusik, deshalb konzertant – der Hammer! Darauf Hammer Nummer zwei: Büchners „Woyzeck“ im Schauspielhaus.
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„Still, alles still. Als wär die Welt tot.“ Dementsprechend die Bühne: Ein finsteres Riesenloch. Der „arme Teufel“ Woyzeck vom äußersten Rand einer hochmütig selbstgefälligen Gesellschaft stürzt in eben dieses Loch, zieht in qualvoller Einsamkeit sich aus, legt seine Siebensachen brav beiseite. Da beginnt die Drehscheibe zu rotieren, durchbricht Gedröhn die Stille. Und der Schauspieler Stefan Lorch trabt, bloß in seinen schweren Stiefeln ansonsten wie Gott ihn geschaffen, gleichsam wie ein Zirkuspferd, wie eine Maus im Rad oder wie ein Esel im Joch eines Göpelwerks unentwegt im Kreis.
Mit diesem herzzerreißend niederschmetternden Bild vom Schmerzensmann in der Schraube des Weltelends startet das Nürnberger Staatsschauspiel ins neue Christenjahr. Und aus der ersten Reihe im Parkett, wo unterm Publikum die Meute von Woyzecks Mit- und Gegenspielern lauert, kichern Hohn und Spott. Und von dort klettert sie zu Woyzeck hoch auf die Daseinsmühle. Und hetzt ihr schweißtriefend durchgedrehtes Opfer in Verzweiflung, Mord, Untergang. Dann steht die Scheibe still. Und wir ahnen: Dieser arme Hund könnte dereinst als Wolf wiederkehren. Die Büchner-Tragödie als schlagendes Menetekel, von Regisseur Christoph Mehler in suggestiv minimalistischer Art aber mit monumentaler Wirkung auf die Bühne gewuchtet. Provinztheater als Welttheater. Unvergesslich. Unbedingt tauglich fürs kommende Theatertreffen in Berlin.

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Als „Pressbanditen“ wurden schon zu Fontanes Zeiten Theaterkritiker beschimpft, aber immerhin von Theodor als urteilskräftig unter kollegialen Schutz gestellt. Ihre Lage ist noch heute so (ähnlich). Deshalb kam ein Trupp Schweizer Theaterbetriebe auf die raffinierte Idee, aus den Banditen Komplizen zu machen. Er gründete eine Internetplattform, auf der er die eigenen Premieren von jeweils mindestens zwei erwählten Kritikern rezensieren lässt – gegen das nette Sümmchen von 600 Fränkli pro Text. Die eingekauften, ansonsten meist stark unterbezahlten Online-Freelancers werden einen Teufel tun, den Banditen zu geben. Handzahmes gegen Bares. Aber die Plattform sagt: Auch Verrisse sind super, weil allemal besser als überhaupt keine Kritik.

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Illegale Flugblatt-Aktion im Berliner Ensemble. Eben jetzt zur Nach-Neujahr-Premiere von „Dantons Tod“ in der Pause. Text der Kampfschrift: „Gesellschaftskritische Stücke spielen und gleichzeitig Menschen ausbeuten, das ist die Wirklichkeit am BE. Das inszeniert sich als moralische Anstalt, aber hinter der Bühne herrschen prekäre Arbeitsverhältnisse: kein Tarifvertrag, ungleiche Bezahlung, keine Transparenz, keine Sicherheit…“ – Junge Sympathisanten mit den BE-Opfern der Ausbeutung schreien ins Megaphon „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ (den vielen anderen ausbeuterischen Theaterpalästen). Und werfen von den Rängen ihre Wutzettel unters Volk. Revolte gegen Berlins meist gehassten, meist bestaunten Super-Striese Claus Peymann! Aber auch ein sarkastischer Kommentar zur jüngsten Inszenierung des BE-Chefs: Die nämlich drückt Büchners dramatischen Diskurs über Glanz und Elend von Revolutionen fade quasselnd beiseite und ergibt sich stattdessen vornehm tantenhaft dem Menschheits-Wehweh.
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Nein, der Aufruhr gegen Peymann, dessen feines Haus wirtschaftlich glänzend dasteht, der ist keine von der Regie inszenierte Büchner-Deko, wie alle zunächst dachten. Schade, denn sie hätte der depressiv artifiziellen, nicht ganz Edelkitsch-freien Büchner-Vereinfachung nur gut getan. Tags darauf droht der (O-Ton „weltberühmte“) Theaterdirektor, der sich selbstironisch gern als Apo-Opa sieht und einst der in Stammheim einsitzenden RAF-Terroristin Meinhof den Zahnersatz mitbezahlte, mit Strafanzeige gegen die Flugblatt-Aktivisten. In der Bild-Zeitung.

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Neujahrsknaller im Berliner Admiralspalast: Der holländische Magier Hans Klok. Gleich einer Kette von Feuerwerkskaskaden donnern fahrbare Kästen und Kisten über die Bühne: Menschen schlüpfen da hinein, werden unsichtbar, tauchen da oder dort wieder auf. So geht das hopphopp Knall auf Fall im irrsinnigen Ringelreihen: Verschwinden, In-Luft-Auflösen, Wiederauftauchen. Eine blitzende High-Tech-Show – scheinbar gegen sämtliche Gesetze der Physik. Baff! Der Mund bleibt offen – beinahe bis zum nächsten Querbeet.