14. Jahrgang | Nummer 26 | 26. Dezember 2011

Aus der Zeit gefallen: Magdeburger Industrieruinen

von Kai Agthe

Im Osten Deutschlands sind zahllose architektonische Zeugnisse zu finden, von denen sich sagen lässt, dass sie aus der Zeit gefallen sind. Ihrer einstigen Nutzung enthoben, sind sie diese meist aus Backstein gefertigten Bauwerke Relikte einer einst vielfältigen Industrie und oft auch von hohem architektonischen Wert. Der Fotograf Marc Mielzarjewicz stellt die „Lost Places“, die verlorenen Orte, in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt Magdeburg vor. Es sind Ruinen von Industriebauten, die entweder inzwischen verschwunden sind, gerade abgetragen werden oder, im besten Fall, dank eines nachhaltigen Nutzungskonzepts gerettet wurden.
Ein zentrales Zeugnis in der nicht eben als innovativ bekannten DDR-Architektur ist die Magdeburger Hyparschale. Das 1969 als Mehrzweckhalle eröffnete und seit langem leider leer stehende Gebäude ist ein Entwurf der Architekten Fritz Retzloff und Ulrich Müther. Letzterer wurde bekannt durch seine futuristische Rettungsstation von 1968 im Ostseebad Binz auf Rügen, wo er 1934 geboren wurde und 2007 auch starb. Müther entwarf 50 Schalenbauwerke und war in der DDR der vielleicht einzige Vertreter der architektonischen Moderne von internationalem Rang. Schon die Diplomarbeit widmete er „hyperbolischen Paraboloiden“, die er kurz „Hyparschalen“ nannte. Vergleichbare Architekturen wie die Magdeburger Entwurf sind der „Teepott“ in Warnemünde und die Gaststätte „Ahornblatt“ in Berlin, die, wie skandalös, im Jahr 2000 abgerissen wurde. Ulrich Müther lieferte auch die Entwürfe für die Rennschlittenbahn in Oberhof und Planetariums-Gebäude für Helsinki und Wolfsburg. Für letzteres erhielt die DDR im Gegenzug 10.000 Pkw des Typs VW Golf.
Es ist zu wünschen, dass die Hyparschale bald einen Investor findet und damit eine Zukunft hat. So wie im Fall des einstigen Messgerätewerkes „Erich Weinert“ in der Schönebecker Straße 124. Das Objekt wird derzeit entkernt und soll künftig Loft-Wohnungen aufnehmen. Und in der Sieverstorstraße, wo heute noch die Reste der ehemaligen Börde-Brauerei stehen, sollen in Kürze eine Wohnhaussiedlung und Geschäfte entstehen. Auch hier kam der Fotograf noch rechtzeitig, um die Industriearchitektur des späten 19. Jahrhunderts im Bild festzuhalten.
Dem Verfall preisgegeben ist auch die ehemalige SED-Bezirksparteischule, deren Kern ein Gebäude aus den späten dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts bildete, das, kriegsbedingt, erst in den fünfziger Jahren vollendet wurde und einen Erweiterungsbau erhielt. Der Blick des Fotografen reicht in der Ruine bis in die erstaunlich große und ausgeweidete Telefonanlage. Und sofort fragt sich der Betrachter, wer hier seinerzeit wohl alles mitgelauscht haben mag.
In Magdeburg-Neustadt steht ein wichtiges Relikt und, nicht zuletzt wegen der zahlreichen Türmchen und Zinnen, eine wahre Burg des Industriezeitalters: Jenes Brauereigebäude, in dem bis 1994 unter dem Namen „Diamant“ Gerstensaft hergestellt wurde. Es fehlt leider ein Hinweis, wann die Brauerei Wernecke den Komplex in der Lübecker Straße errichten ließ.
Ebenfalls schon Geschichte ist der „Lange Heinrich“, der am 28. Oktober 2009 gesprengt wurde. Bei diesem handelte es sich um einen 108 Meter hohen Schornstein des ehemaligen Schwermaschinenkombinats „Ernst Thälmann“ (SKET). Die Ruinen der SKET-Fabriken zeugen ebenso wie die des Reichsbahnausbesserungswerkes in Salbke und die des einstigen Schwermaschinenbaus „Georgi Dimitroff“ in Buckau – alle aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts datierend – von der einstigen Bedeutung des Industriestandorts Magdeburg.
Als einzige Architektur neben der Hyparschale, die nicht industriell, sondern multifunktional genutzt wurde, hat Mielzarjewicz das Veranstaltungshaus „Kristallpalast“ aufgenommen. Bereits 1986 baupolizeilich gesperrt, stürzte 2011 die Deckenkonstruktion ein. Wie zu lesen, versucht nun ein Verein das bei alten Magdeburgern noch mit nostalgischen Erinnerungen an rauschende Nächte und Vergnügen verbundene Gebäude in der Leipziger Straße zu retten.
Der Weg führt also von Salbke im Süden bis Rothensee im Norden Magdeburgs. Ferner in das westlich der Landeshauptstadt gelegene Hillersleben, wo Ruinen einer zuletzt als Kaserne der Roten Armee genutzte Heeresversuchsanstalt zu sehen sind, sowie in Richtung Süden, nach Schönebeck. Dort hat Marc Mielzarjewicz das einstige Gummiwerk „John Schehr“ in der Schillerstraße dokumentiert. Auch hier finden sich detailverliebte Aufnahmen: Formen für Schuhsohlen haben in der Fabrikation ebenso die letzten zwanzig Jahre überdauert wie der Kadaver des Buchungs- und Fakturierautomaten „Robotron 1720“. Nach einiger Recherche kann man im Internet auch den Hinweis finden, dass es sich bei der mit dem Kürzel „Desma“ versehenen Apparatur um eine Spritzgießmaschine handelt, mit der Schuhsohlen hergestellt wurden. Das Gerät stammt von der Firma Klöckner Ferromatik Deutsche Schuhmaschinen GmbH aus Achim bei Bremen, war seinerzeit also ein westdeutscher Import und wurde, weil das Unternehmen erst seit 1981 diesen Namen trägt, in den letzten DDR-Jahren angeschafft.
Der Band setzt eine Reihe fort, in der bislang „verlorene Orte“ in Halle (Saale), Leipzig und Beelitz-Heilstätten – die schon morgen nicht mehr existieren können – wiedergefunden und in ihrem Ist-Zustand der „Nuller Jahre“ festgehalten wurden. Die Serie „Lost Places“ ist ganz fraglos ein bedeutender Beitrag zur ostdeutschen Industrie- und Architekturgeschichte.

Marc Mielzarjewicz: Lost Places Magdeburg – Spuren der Zeit, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2011, 160 Seiten, 19 Euro