14. Jahrgang | Sonderausgabe | 5. Dezember 2011

Als die deutsche Besatzung in Frankreich ernst machte

von Kai Agthe

Natürlich trägt diese Schrift stark apologetischen Charakter. Für eine künftige Nachkriegsordnung sollte in ihr verzeichnet sein, was in Frankreich auf deutsche Veranlassung an Geiselerschießungen stattfand. Ernst Jünger, der im besetzten Paris zum Stab des Militärbefehlshabers Otto von Stülpnagel (und später zu dem seines Vetters und Nachfolgers Carl-Heinrich von Stülpnagel) zählte, hat auf Veranlassung seines Vorgesetzten die jetzt in Buchform vorliegende Dokumentation verfasst. Laut Jüngers Tagebuch trat Otto von Stülpnagel (1878-1948) am 23. Februar 1942 mit diesem Wunsch an ihn heran, weil die „genaue Schilderung (der Geiselfrage) für spätere Zeiten ihm am Herzen liegt“. Der General stand Geiselerschießungen zwar ablehnend gegenüber, war jedoch mehr um politische Schadensbegrenzung bemüht und handelte weniger aus philanthropischen Erwägungen. Diese Schrift veranlasst zu haben, entsprang, so erklärt es Ernst Jünger in seinem Pariser Tagebuch, Otto von Stülpnagels „bis zur Starrheit ausgeprägtem Empfinden für Korrektheit und geschichtlichen Ruf“.
Die Denkschrift besteht aus zwei Teilen: Im ersten Abschnitt skizziert Jünger die vor allem in den Jahren 1941/42 in Paris massiv verübten Attentate auf Wehrmachts-Soldaten und Offiziere sowie die damit verbundenen Rache-Aktionen, in deren Verlauf die deutschen Besatzer Unschuldige, vor allem Kommunisten und Juden, selektierten und ermordeten. Die Zahl der Franzosen, die für einen getöteten Deutschen sterben mussten, schwankte und wurde, oft in Berlin, eher willkürlich festgelegt. Offener Widerstand gegen derartige Befehle regte sich im Kreise der deutschen Offiziere in Frankreich nicht. Jüngers Schrift ist ein Kapitel im großen Buch deutscher Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg.
Im zweiten Teil finden sich Briefe von Geiseln aus Nantes, die im Angesicht ihrer bevorstehenden Erschießung von ihren Lieben Abschied nehmen. Übersetzt hat diese Schreiben Hauptmann Jünger. Die Inhalte der Briefe reichen von der Ungläubigkeit, aus reiner Willkür erschossen zu werden, über Liebesbekundungen an die Familien bis zu der Beteuerung, als Franzose aufrecht sterben zu wollen. Sie werden keinen Leser unberührt lassen. Auch nicht die Zeilen des gerade 17-jährigen Guy Môquet. Dessen letztes Schreiben an seine Eltern kennt in Frankreich jedes Kind, da es seit 2007, dem Amtsantritt von Nikolas Sarkozy, alljährlich in den Schulen vorzulesen ist. Guy Môquet gilt in unserem Nachbarland, so der Herausgeber, gewissermaßen als Gegenstück zu Sophie Scholl.
Später auf diese Denkschrift – die Sven Olaf Berggötz zuerst 2003 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte publizierte – angesprochen, sagte Ernst Jünger, dass man in der Situation, in der er und seine Vorgesetzten sich befanden, „nur Fehler machen kann, ob man handelt oder nicht handelt“. Sein Bericht über das unmenschliche Vorgehen der Wehrmacht, hat freilich keinen Menschen, der Opfer der Strafmaßnahmen wurde, vor dem Tode bewahrt. Wohl auch deshalb hat der Verfasser zeitlebens davon abgesehen, diese Pariser Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Wozu alte Wunden aufreißen, war der Kommentar des 1998 im Alter von 102 Jahren gestorbenen Autors.
Sven Olaf Berggötz – der 2001 auch den Band zur nationalistischen Publizistik Jüngers der Jahre 1919 bis 1933 herausgab – kommentiert die in „Kanzleideutsch“ (Volker Schlöndorff) verfasste Denkschrift „Zur Geiselfrage“ und ihre Entstehung in seinem Vor- und Nachwort sowie in der editorischen Notiz philologisch vorbildlich. Auch nennt Berggötz jüngere Literatur zum Thema. Ernst Jüngers Aufzeichnungen geben einen nachhaltigen Einblick in das Funktionieren der deutschen Besatzungsmaschinerie in Frankreich. Bedauerlich nur, dass in den Briefen der Geiseln aus Nantes zahlreiche Abschreibfehler stecken. Das sollte in einer Nachauflage korrigiert werden.
Auf Grundlage dieser Aufzeichnungen und angereichert durch die Tagebücher Ernst Jüngers aus dem Zweiten Weltkrieg, hat Volker Schlöndorff im Verlauf des Jahres 2011 in Frankreich den Film „Das Meer am Morgen“ gedreht. Aus diesem Grund mag sich der Regisseur veranlasst gesehen haben, zum „Geiselfrage“-Buch ein Vorwort beizusteuern, in dem er erläutert, warum er dieses cineastisch eher sperrige Thema gewählt hat. In der Rolle des Ernst Jünger ist übrigens Ulrich Matthes zu erleben.

Ernst Jünger: Zur Geiselfrage. Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen. Herausgegeben von Sven Olaf Berggötz. Mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff, Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 159 Seiten, 19,95 Euro