14. Jahrgang | Nummer 24 | 28. November 2011

Wachstumskritiker auf der falschen Seite der Barrikade? Zur Schelte Lucas Zeises

von Frank Adler

Lucas Zeise, Ökonom und bekannter Kolumnist der Financial Times Deutschland, hat jüngst die Wachstumskritik scharf kritisiert (siehe: Marxistische Blätter 4 / 2011). Zweien der unzutreffenden Pauschalurteile aus seinem Beitrag „Vom Lob des Verzichts. Wo die Wachstumskritiker landen“ möchte ich hier widersprechen.
Erstens unterstellt Zeise, Wachstumskritik sei blind für die sozial ungleiche Verteilung zwischen Kapital und Arbeit, sie operiere vor allem mit dem Argument eines durchschnittlich zu hohen Lebensstandards, eines sozial undifferenzierten „wir“, das „über die Verhältnisse lebt“. Damit besorge sie (ungewollt) das Geschäft des Kapitals. Dessen weitsichtigere Interessenvertreter hätten längst erkannt, dass die gegenwärtige Produktionsweise ökologisch umgebaut werden müsse, was enorme Investitionen erfordere. Um diese Kosten stärker auf die Lohnabhängigen abzuwälzen, sei ihnen der Ruf „Verzichtet auf  Wachstum und zu viele materielle Güter“ höchst willkommen. Zeises Vorwurf mag zwar vereinzelte wachstumskritische Autoren treffen, für das Gros der wachstumskritischen Debatte und Bewegung geht er jedoch ins Leere. Für sie gilt eher „mehr Gleichheit und Gerechtigkeit statt Wachstum“, wie weiter unten konkreter zu zeigen sein wird.
Zweitens suggeriert Zeise, ein Wachstumsstopp, Nullwachstum oder eine sofortige Schrumpfung der Wirtschaft in frühindustrialisierten Ländern wie Deutschland seien als solche die programmatischen und geradezu tagesaktuellen Ziele der Wachstumskritiker. Und er belehrt sie deshalb: Wer „unter den jetzigen Verhältnissen für niedrigeres Wachstum und gegen die Förderung von Wachstum plädiert, tritt ein für hohe Erwerbslosigkeit, soziales Elend und eine Schwächung  gewerkschaftlicher Gegenmacht…schlägt sich auf die Seite des Großkapitals…“ Überhaupt könne der angestrebte wachstumslose Zustand nur in einem faulenden und parasitären finanzwirtschaftlichen Kapitalismus enden, der weit unerfreulicher sei als der jetzige.
Diese Warnung mag berechtigt sein, sie ist jedoch falsch adressiert. Denn das zentrale Thema der wissenschaftlich argumentierenden Wachstumskritik ist ja gerade die Frage: Wie können die „jetzigen Verhältnisse“ so umgestaltet werden, dass der darin verankerte Wachstumszwang mit seinem Dilemma „soziale Pest durch ökonomische Rezession bzw. Depression oder ökologische Cholera durch fortgesetztes Wachstum “ überwunden wird? Bloße Schrumpfung ist keine Lösung, geschweige denn eine gesellschaftliche Vision. Krisenbedingtes Null- oder Minuswachstum entlastet zwar Natur und Umwelt, zum Beispiel bei CO2-Emissionen. Aber dieser Nebeneffekt der Krise wird durch andere ökologisch und sozial negative Wirkungen zunichte gemacht.

Prämissen der Wachstumskritik
Der Ansatz der wissenschaftlich argumentierenden Wachstumskritik ist nicht isoliert auf Schrumpfung fokussiert, sondern argumentiert systemisch. Er zielt auf einen ökologisch nachhaltigen Typ gesellschaftlicher Reproduktion, der soziale und ökonomische Stabilität sowie einen Wohlstand anderer Art ermöglicht, ohne von permanentem Wirtschaftswachstum abhängig zu sein. Egalitärere Verteilungsstrukturen sind hierfür unabdingbar. Schrumpfung ist perspektivisch und per Saldo – beginnend mit ökologisch oder anderweitig problematischen Bereichen –  Mittel und Ergebnis eines gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses. Dieser Ausgangspunkt wird weitgehend geteilt innerhalb der wissenschaftlich argumentierenden Wachstumskritiker. Er  gründet sich unter anderem auf folgende Überlegungen und Befunde:
– Dem Wirtschaftswachstum sind auf einem endlichen Planeten unhintergehbare ökologische Grenzen gesetzt. Auch wenn es in Wertkategorien gemessen wird  – üblicherweise noch als Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – so ist es doch stets mit einem insgesamt wachsenden Verbrauch an Natur verbunden. Diese Schranken werden immer spürbarer – ökologisch, ökonomisch, sozial. Die Hoffnung, wirtschaftliche Wertschöpfung durch technischen Fortschritt und den Übergang zu einer Dienstleistungswirtschaft so weit von Naturverbrauch zu entkoppeln, dass auch eine wachsende Weltwirtschaft und -bevölkerung mit steigenden Wachstums- und Konsumansprüchen in den Schwellen- und Entwicklungsländer innerhalb ökologischer Leitplanken verbleibt, wird mit triftigen Argumenten als riskante Illusion kritisiert. (Siehe dazu ausführlicher meinen Beitrag in Blättchen 13/2011.)
– Seit den 1970er Jahren sinken die Wachstumsraten des BIP ohnehin in den frühindustrialisierten Ländern im Dekadendurchschnitt, wobei der absolute Zuwachs in etwa gleich bleibt. In den letzten zwei Jahrzehnten stagnieren oder sinken zudem die „sozialen Erträge“, die gemeinhin dem Wirtschaftswachstum zugeschrieben werden: lohnabhängige Realeinkommen, soziale Sicherheit, die finanzielle Ausstattung von Sozialsystemen. Zugenommen hat hingegen  die ungleiche Verteilung von Vermögen, Einkommen, Zugang zu höherer Bildung, Beschäftigungschancen, Arbeitszeit und so weiter. Eine Rückkehr zu Wachstumsraten (zwei Prozent plus x), die wieder traditionelle Vollbeschäftigung  ermöglichen, gilt als unrealistisch. Peak Oil, aber auch zunehmende Knappheiten bei Ressourcen für die technische Nutzung erneuerbarer Energien, verschärfte Landnutzungskonkurrenzen („Tank oder Teller“), steigende Folgekosten des Klimawandels und anderer ökologischer Effekte von Wirtschaftswachstum führen zunehmend zu dem, was Herman Daly „uneconomic growth“ nannte. Verwiesen wird auch auf tendenzielle Marktsättigungen in den hoch entwickelten Industrieländern, auf die mit aggressiven Werbe- und Konkurrenzstrategien reagiert wird. All das begrenzt wirkliche Wohlstandsgewinne des statistisch messbaren BIP-Zuwachses. Und in Volkswirtschaften, die ein Pro-Kopf-Jahreseinkommens von 15.000 Dollar erreicht haben, nimmt die Lebenszufriedenheit faktisch nicht mehr durch BIP-Zuwächse zu.
– Dennoch bleibt die Funktionsweise wichtiger gesellschaftlicher Teilsysteme auf Wachstum angewiesen und die Politik stellt ökologisch sinnvolle Vorhaben oft unter „Wachstumsvorbehalt“. Zu geringes oder gar negatives Wachstum führt unter den gegebenen Bedingungen zu Abwärtsspiralen. Rückkopplungsmechanismen, die vorher zur Expansion (Effizienzsteigerung – sinkende Kosten – steigende Nachfrage …) beitrugen, schlagen ins Gegenteil um, zum Beispiel indem der Zuwachs an Arbeitsproduktivität nicht durch Wachstum ausgeglichen wird. In der Folge erhöht sich die Arbeitslosigkeit, und es werden lohnabhängige Einkommen und damit die Kaufkraft geschwächt. Zugleich werden die Einnahmen des Staates durch verringerte Steuern geschmälert, seine Sozialausgaben aber erhöht. Diese Tendenz setzt sich fort durch die Reaktionen und „Auswege“ maßgeblicher Akteure: Der Staat tendiert zu höherer Schuldenaufnahme, die großen Vermögen und Kapitale „fliehen“ in die deregulierten Finanzmärkte, in spekulative Anlagen oder in aggressive Exportorientierung (Deutschland), ein Teil der Konsumenten deckt seinen Bedarf über Konsumentenkredite (ausgeprägt in den USA). So entsteht jene brisante Mischung von Dynamiken, die sich in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise entlädt. Deren „Lösungen“ wiederum sind eher Problemverschiebungen in Raum und Zeit, sie vertiefen soziale Polarisierungen und vertagen ökologischen Strukturwandel, zumal die staatlichen Konjunkturspritzen  nicht einmal für einen neo-keynesianischen Green New Deal genutzt werden.
Der von Zeise offensichtlich präferierte Weg, die Realeinkommen und damit die Massenkaufkraft  zu stärken, würde zwar über das dadurch stimulierte realwirtschaftliche Wachstum akute Krisenphänomene  und soziale Polarisierungen lindern. Er ist aber keine langfristig gültige Antwort auf die ökologischen und anderen Grenzen des Wachstums und auf die Risiken, die ein fortgesetzter Wachstumskurs in sich birgt.
Vor diesem Hintergrund bewegt die Wachstumskritiker vor allem die Frage, wie die auslaufende Ära des hegemonialen Wachstumsparadigmas beendet wird – potentiell katastrophisch oder als eine sozial-ökologische Transformation. Sie sucht nach Pfaden  in eine nicht mehr am Tropf  des BIP- Zuwachses hängenden sozio-ökonomischen Entwicklung. Das ist eine Mehrfach-Aufgabe:
– Wie ist der wesentlich im kapitalistischen Verwertungsprozess verankerte „Wachstumsdruck“ aufzuheben, zu verringern oder zunächst umzulenken – etwa von Finanzmarktspekulationen hin zu Investitionen in einen ökologischen Strukturwandel, in eine höhere Ressourcenproduktivität?
– Wie kann die Wirtschaft gesellschaftlich so reguliert werden, dass Arbeitsplatzangebot, Staatsfinanzen und soziale Sicherungssysteme aus ihrer (tatsächlichen oder vermeintlichen) Abhängigkeit von einem ständig wachsenden BIP und seinen „Ausschlägen“ befreit werden?
– Was können Wohlstand und gutes Leben bedeuten, wenn das BIP nicht mehr wächst?
Eine nach sozialen und ökologischen Kriterien gesteuerte Schrumpfung wirtschaftlicher Aktivitäten wird dabei als eine Konsequenz, als Moment und Ergebnis einer gesamtgesellschaftlichen Transformation gesehen.

Vision Post-Wachstumsökonomie
In der sich verstärkenden Debatte um eine Postwachstumsökonomie werden Ideen für ein entsprechendes Wirtschaftsmodell und die notwendigen gesellschaftlichen Transformationen diskutiert, etwa im Unfeld von Attac oder von Ökonomen wie Tim Jackson oder Niko Paech. Eine wesentliche Zielgröße dabei ist, dass sich die globale Wirtschaftsaktivität schrittweise auf ein Niveau hin bewegt, das sich mit politisch fixierten, ökologisch begründeten Obergrenzen und Reduktionszielen verträgt. Insbesondere das klimarelevante globale CO2-Budget wird „gedeckelt“ und nach Prinzipien internationaler und historischer sozialökologischer Gerechtigkeit  aufgeteilt. Dies bedeutet eine stärkere Reduktion in den frühindustrialisierten, reicheren Ländern des globalen Nordens. Dabei steht nicht ein „Weniger“ innerhalb des Gegebenen im Vordergrund, sondern ein sozial abgefederter ökologischer Strukturwandel der Wirtschaft. Er beinhaltet u. a. folgende Aspekte:
– ökologische Investitionen in ressourceneffiziente, emissionsarme Technologien, Produkte, Infrastrukturen, in die Sanierung und den Erhalt des Wertschöpfungspotenzials ökologischer Dienstleistungen der Natur. Diese Investitionen sollten in beträchtlichem Maße mit öffentlichen Mitteln finanziert werden, zumal die Renditen daraus geringer sind und erst langfristiger fließen. Um dadurch jedoch die Staatsverschuldung nicht weiter zu erhöhen, werden höhere Steuern insbesondere auf den Ressourcenverbrauch (statt auf Arbeit) sowie auf hohe Vermögen und Einkommen vorgeschlagen. Verstärkt sollte damit öffentliches Eigentum an produktiven Vermögen gebildet (zum Beispiel durch Re-Kommunalisierungen) und auch als Einnahmequelle genutzt werden. Außerdem werden Formen der Arbeitnehmerbeteiligung am Produktivvermögen vorgeschlagen, zum Beispiel indem Einkommensüberschüsse und Spareinlagen ökologisch angelegt, statt konsumiert werden.
– „Schrumpfung, Rückbau und Konversion“ betreffen zunächst und vor allem ökologisch oder anderweitig problematische Branchen (zum Beispiel Rüstungsproduktion, CO2-intensive Energieerzeugung, Ferntourismus, Werbung). Für die betroffenen Beschäftigten sollte dies möglichst angstfrei, mit gesicherten sozialen Perspektiven erfolgen. Dennoch ist hier mit großen Widerständen zu rechnen, da in diesem Bereich (zum Beispiel in der Ölförderung und -verarbeitung) die größten globalen Konzerne agieren.
– Ausgeweitet werden sollten demgegenüber Dienstleistungen in den Bereichen Soziales, Bildung, Kultur oder zur Unterstützung eines ressourcenleichten Konsumtionsstils, indem Kaufen, Besitzen und Ausrangieren durch Ausleihen, Teilen, Tauschen sowie Reparieren ersetzt werden und sich somit die Nutzungsdauer von Produkten verlängert. In diesen Bereichen ist die Arbeitsproduktivität vergleichsweise niedrig, sie zu steigern ist eher kontraproduktiv (wie etwa eine Altenpflege im „Minutentakt“). Deshalb wird von ihrer Erweiterung ein Wachstums mindernder Effekt erwartet.
Ein größerer Teil des verteilbaren Produktivitätszuwachses wird in einer Postwachstumsökonomie nicht in Einkommen entgolten, sondern genutzt, um die gesellschaftliche Gesamt- Erwerbsarbeitszeit zu reduzieren und gerechter zu verteilen. Damit könnten sowohl die Arbeitslosigkeit als auch – und vor allem – der Wachstumsdruck vermindert werden, da weniger produziert und auf Grund des geringeren Gesamteinkommens auch weniger nachgefragt wird. Außerdem könnten über die Regulierung des Gesamtarbeitsvolumens konjunkturelle Schwankungen in der Nachfrage nach Arbeitskraft austariert werden. Um bei reduzierten Arbeitszeiten im unteren Einkommensbereich Existenz sichernde (Arbeits-)Einkommen zu erreichen, sind Umverteilungen – über Mindestlohnregelungen oder Formen einer angemessenen Grundsicherung – nötig, was unter Bedingungen von Nullwachstum nur durch Reichtumsbegrenzung nach oben zu haben ist. Dies ist jedoch nur ein Beispiel dafür, dass egalitärere Verteilungsverhältnisse eine Bedingung für den angestrebten Wandel sind.

Wohlstand und soziale Sicherheit ohne Wachstum
Ebenso wenig ist die Transformation zu einer „Wachstums befriedeten“ Ökonomie und  Gesellschaft demokratisch durchsetzbar ohne eine mehrheitsfähige Vision eines „Wohlstands ohne Wachstum“ (Tim Jackson). Das im wachstumskritischen Kontext diskutierte Verständnis von Wohlstand unterscheidet sich dabei wesentlich vom gegenwärtig vorherrschenden Wohlstandsmodell. Es ist  vor allem auf – diskursiv auszuhandelnde – Qualitäten eines „guten Lebens“ orientiert. Dazu gehören unter anderem mehr soziale Gleichheit und Sicherheit sowie kooperativ-solidarische Beziehungen. Gleichfalls wichtig sind erweiterte Chancen der Individuen, Selbstbestätigung und gesellschaftliche Anerkennung durch Entwicklung ihrer Fähigkeiten und aktive und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erlangen – anstatt wie derzeit durch Konsum, Statussymbole, Besitz, hierarchische Positionen. Um die sozioökonomischen Bedingungen dieses „guten Lebens“ zu reproduzieren bedarf es keiner wachsenden Wirtschaft, die einen ständig wachsenden Bedarf und Verbrauch immer neuer Güter hervorbringt und auf globalisierte Warenströme angewiesen ist. Der „neue“ Wohlstand beruht auf belastbaren, ökologisch zukunftsfähigen Fundamenten und ist deshalb universell übertragbar und – zumindest perspektivisch – auch für neun Milliarden Menschen lebbar.
Von solchen Prämissen ausgehend, ist oft von Suffizienz, (moderner, urbaner) Subsistenz, freiwilliger Einfachheit, oder von „Eleganz der Einfachheit“ (Wolfgang Sachs) und einer „Entrümpelung des Lebensstils“ (Niko Paech) die Rede. Gemeint sind damit nicht Verzicht und Askese, auch nicht vorrangig ein „Weniger“ des jetzigen Lebensstandards, sondern „anders leben“: Gewinn an Lebenszeit für selbstbestimmte Aktivitäten, an  Freiheit von Zwängen, an Unabhängigkeit von Fremdversorgung. Die Autoren beziehen sich dabei oft auf Forschungen, die nachweisen, dass Konsum, Einkommen und Besitz jenseits bestimmter Grenzen nicht die Lebenszufriedenheit steigern. Viele erleben das herrschende Modell der Lebensweise als belastend und widersprüchlich. Zeitnot und Unvereinbarkeiten zwischen Lebensbereichen und -ansprüchen, Sinnleere, Reizüberflutung, Depressionen, Burn Out und so weiter sind typische Symptome. Diese Risse sind Anknüpfungspunkte für einen Wandel unabhängig von ökologischen Motiven, der von Minderheiten auch realisiert wird.
Um jedoch alternative Lebensstile und Konsumtionsweisen für breitere Bevölkerungsschichten möglich und attraktiv zu machen, müssen gesellschaftliche Infrastrukturen des Alltags verändert werden. Auch dafür sind kürzere und gleichmäßiger verteilte Erwerbsarbeitszeiten unabdingbar. Der gewachsene „Zeitwohlstand“ erweitert die Spielräume für Tätigkeiten in der Familie, für soziales Engagement, für Bildung und Muße. Eventueller Einkommensverlust kann teilweise ausgeglichen werden, indem (wieder) mehr selbst hergestellt und repariert wird oder Leihen, Teilen und Tauschen an die Stelle von Kaufen treten. Zeit, Fähigkeiten und soziale Kontakte ersetzen somit Geld als Tauschmittel, und die Öko-Bilanz von Konsumgütern verbessert sich durch ihre intensivere und längere Nutzung. Außerdem werden davon weitere Wachstums dämpfende Effekte erwartet. Wenn sich die Chancen für gesellschaftliche Anerkennung und Sinn erfüllte Tätigkeiten in nichtkommerziellen Lebensbereichen erhöhen, könnten sich Anreize für konsumtiven Statuswettbewerb (Prestigegüter) und kompensatorisches Kaufen und Konsumieren könnten abschwächen. Aber auch ein Verbot aggressiver Konsum-Werbung – zumindest für Kinder, wie etwa in Norwegen praktiziert – wird diskutiert. Ebenso wird der Ausbau von öffentlichen Dienstleistungen vorgeschlagen, die das persönliche Budget entlasten, den gesellschaftlichen Ressourcenaufwand senken und zugleich dem durch ständige Innovationen Wachstums treibenden privaten (Statuts-)Konsum entgegenwirken. So böte zum Beispiel ein preisgünstiger oder kostenloser ÖPNV Möglichkeiten, Pkw-Besitz einzuschränken und als Statussymbol zu entwerten. Konsum von seinen vielfältigen sozialen, symbolischen, kulturellen Funktionen, die den Innovations-Wachstumsmotor antreiben, zu entkoppeln, ist eine der voraussetzungsreichsten Herausforderungen auf dem Wege zu einem „Wachstums befriedeten“ Lebensstil.
Durch reduzierte Arbeitszeiten und weitere Veränderungen im Konsum- und Lebensstil insgesamt wird der über Ware-Geld-Beziehungen – oft auch über globalisierte Warenströme – vermittelte Bedarf an Gütern verringert. Damit könnten Wachstumsraten und Umfang des BIP reduziert werden, ohne in vormoderne Zeiten zurück zu verfallen.
Besonders wichtig für die Akzeptanz von Postwachstums-Visionen sind überzeugende Antworten auf die Frage, wie die sozialen Sicherungssysteme so umzugestalten sind, dass sie auch und gerade wachstumsunabhängig zuverlässig funktionieren. Sie müssen verlässliche Lebensperspektiven bieten, ohne dass von ihnen Wachstumsdruck ausgeht, ausgelöst etwa durch einen ständigen steigenden Finanzbedarf oder wachsende Staatsverschuldung. Drei Ansatzpunkte werden gesehen, um vor allem die chronische Unterfinanzierung der Sozialsysteme zu überwinden. Das sind zunächst Reformen in den jeweiligen Teilsystemen, die auch unabhängig von der Wachstumsdebatte seit längerem vorgeschlagen werden. Zum anderen handelt es sich um Entlastungseffekte und Synergien, die durch Veränderungen in anderen Bereichen zu erschließen sind. Und schließlich geht es darum, die finanziellen Belastungen egalitärer zu verteilen. So sieht das von Attac entwickelte Modell einer solidarischen Bürgerversicherung vor, alle privaten Einkommensarten dafür heranzuziehen.
Nehmen wir als Beispiel das Gesundheitswesen – einen Bereich, dessen monetäre Wachstumsraten jene des BIP überschreiten und für den auch künftig mit zunehmenden Kosten gerechnet wird. Um den Wachstumstrend zu brechen ohne Tendenzen zu einer Zweiklassenmedizin zu stärken, wären nach Hans-Peter Studer Paradigmenwechsel von Krankheitsbehandlung zu Prävention und Gesunderhaltung sowie von der Schulmedizin zu integrativer Komplementärmedizin erforderlich. Darüber hinaus müssten finanzielle Fehlanreize für Versicherte und Leistungserbringer (zum Beispiel „Betten füllen“, „Apparate auslasten“) beseitigt und positive Anreize für Eigenverantwortung und gesunde Lebensführung gestärkt werden. Des Weiteren setzt Studer auf  Kostenersparnis durch gesundheitsfördernde Verbesserungen in den Arbeits-, Lebens- sowie Umweltbedingungen und auf eine wirksamere Gesundheitserziehung, insbesondere aber auch auf die Verringerung von Krankheitsursachen, die letztlich in sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung, Erwerbslosigkeit und deren psychischen Folgen wurzeln. Richard Wilkinson und Kate Pickett kamen in ihrer vergleichenden Studie von 21 OECD-Ländern zu dem Ergebnis, dass in Gesellschaften mit mehr Gleichheit, die Lebenserwartung höher ist, während in ungleicheren Gesellschaften (vor allem in den USA) Kindersterblichkeit, Fettleibigkeit, Teenagerschwangerschaften und psychische Krankheiten deutlich häufiger auftreten.

Mehr Gleichheit statt Wachstum
Wie bereits verdeutlicht, ist der Abbau sozialer Ungleichheiten ein integraler Bestandteil der Vision einer Postwachstumsökonomie und -gesellschaft und unerlässlich für deren gesellschaftliche Akzeptanz. Für viele Autoren ist Ungleichheit in Einkommen, Vermögen und wirtschaftlicher Macht ein entscheidendes Moment in der Reproduktion des herrschenden Wachstums-Wohlstandsmodells und gilt als eine wesentliche Ursache von Wirtschaftswachstum, das seinerseits zugleich als ein – zunehmend leeres – Versprechen erscheint, Ungleichheit in Zukunft durch die Verteilung des Zuwachses erträglicher zu machen.
Wenn allerdings die Hoffnung schwindet, über die Verteilung von Zuwächsen, Soziallagen zu verbessern und anzugleichen, wird der Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum brisanter. Wer unter diesen Bedingungen Armut bekämpfen, Sozialsysteme transformieren und erhalten will, muss zugleich Reichtum begrenzen. Deshalb werden von wachstumskritischen Aktivisten – etwa bei Attac oder in der französischen Decroissance-Bewegung –, aber auch von Autoren wie Tim Jackson Relationen zwischen Grundeinkommen und Maximaleinkommen (zum Beispiel eins zu zehn) thematisiert.
Vorgeschlagen werden auch sozial sensible Steuerungsinstrumente, die individuelle Anreize für einen sparsameren Umweltverbrauch und sozial gerechtere Umverteilung verknüpfen. Zum Beispiel könnte – ausgehend von einer für alle Menschen gleichen Beschränkung, nur soviel Treibhausgase zu emittieren, wie im Rahmen von Reduktionszielen vereinbart ist, – jeder Bürger ein übertragbares Kontingent von CO2-Äquivalenten (circa 2,7 Tonnen pro Jahr) erhalten. Wer weniger verbraucht, kann den Rest an Mehrverbraucher verkaufen. Mit derartigen Ansätzen könnte das Dilemma bisheriger Regulierungen über Preise und Steuern überwunden werden, die entweder keine echten ökonomischen Anreize zur Reduktion bieten oder aber sozial ausgrenzend wirken. Und die ökologisch und sozial kontraproduktive, Wachstum stimulierende Wirkungsrichtung des jetzigen Mengenrabatts würde umgekehrt.

„Wachstums-Entzug“ – schwierig, langwierig, konflikthaft
All diese gesellschaftlichen Veränderungen im Übergang zu einer Postwachstumsökonomie und -gesellschaft sind miteinander verknüpft und bedingen sich zum Teil wechselseitig. Zugleich erfordern sie weitere Transformationen. Dazu gehört vor allem eine stärkere gesellschaftliche, demokratische Kontrolle ökonomischer Macht und Prozesse, insbesondere eine schärfere Regulierung der Finanzmärkte und ihrer Akteure, eine Stärkung gemeinwirtschaftlicher Elemente und öffentlichen Eigentums in unterschiedlichen Formen. Auch eine gesellschaftliche Investitionslenkung oder weniger auf kurzfristige Rendite orientierte Unternehmensformen (zum Beispiel Genossenschaften und Stiftungen statt Aktiengesellschaften) werden für nützlich erachtet, vor allem auch eine Stärkung lokaler und regionaler Wirtschaftskreisläufe. Radikalere Kapitalismuskritiker wie etwa Saral Sarkar halten die Vergesellschaftung des großen Kapitals für unabdingbar.
Der Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft mit all seinen sozial-ökologischen, ökonomischen und kulturellen Transformationen ist nur als ein langfristiger Prozess denkbar. Seine Komplexität – von manchen wird er als tiefster historischer Einschnitt seit der industriellen Revolution betrachtet – wirft viele Fragen nach der Steuerbarkeit einer solchen Transformation sowie der zeitlichen und inhaltlichen Logik ihrer Teilprozesse und Schritte auf. Auch deshalb wird er von Autoren wie Mohssen Massarat, Ralf Krämer und Hans Thie in zwei Phasen gedacht. In einer ersten Etappe soll zunächst der sozialökologische Umbau der gegenwärtigen ökologisch nicht-nachhaltigen Produktionsweisen und Infrastrukturen vollzogen werden, was zunächst noch per Saldo mit Wachstum verbunden sein kann. In einer zweiten Etappe stehen dann tief greifende Veränderungen in den sozio-ökonomischen und kulturellen Reproduktionsbedingungen für eine wachstumsfreie Gesellschaft auf der Tagesordnung.
Allerdings ist ein allzu weites Hinausschieben dieser Phase problematisch. Jedes weitere Jahr des „Weiter so“ erhöht die Reparatur- und Anpassungskosten allein schon infolge des Klimawandels, wie der britische Ökonom Nicholas Stern errechnet hat, und verengt damit die ökonomischen Spielräume für die enormen Investitionen in den erforderlichen ökologischen Strukturwandel – ganz zu schweigen von den Gefahren verschärfter Konkurrenzen um knapper werdende Ressourcen. Außerdem – und das wird in der nördlichen Perspektive oft „vergessen“ – bedrohen verschlechterte Umweltbedingungen im globalen Süden akut die Existenzgrundlage von hunderten Millionen Menschen.
Schon deshalb kann eine wachstumskritische Debatte nicht zeitig und intensiv genug in einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit geführt werden. Dies anzuregen, die herrschende und in der Ökonomenzunft weitgehend ungebrochene wachstumsfetischistische Ideologie zu attackieren und die hinter dem „Sachzwang Wirtschaftswachstum“ wirksamen Machtkonstellationen, Mechanismen, Interessen und Illusionen aufzudecken, dabei zugleich aber visionär konkrete Utopien eines vom Wachstumszwang befreiten gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entwerfen und vorstellbare Schritte in diese Richtung aufzuzeigen, das ist meines Erachtens ein großes Verdienst der neuen Wachstumskritik.

P.S.: Gewiss lässt sich gegen die hier angedeuteten wachstumskritischen Positionen Manches einwenden. So kann man aus marxistischer Sicht den Vorwurf der theoretischen Naivität erheben, zum Beispiel nach dem Motto von Elmar Altvater, „Wer von der Akkumulation des Kapitals nicht reden will, soll zum Wachstum schweigen“. Aber im vorliegenden Beitrag ging es mir zunächst nur darum, die Pauschalvorwürfe zurückzuweisen, verteilungspolitische Blindheit sei charakteristisch für die Wachstumskritik und Schrumpfung per se sei ihr Fokus und ihre tagesaktuelle Forderung. Was gesellschaftlich zu verändern ist, um aus den Dilemmata einer fortgesetzten Wachstumsorientierung in Politik, Wirtschaft und Kultur „herauszuwachsen“ und inwiefern diese Auswege zugleich aus kapitalistischen Verhältnissen herausführen müssen, darüber lässt sich trefflich streiten, was nicht zuletzt auch unter Wachstumskritikern geschieht.