14. Jahrgang | Nummer 23 | 14. November 2011

Geh-danken

Von Siegfried Haase

Es gibt kein Entkommen, die zivilisatorischen Ereignisse dringen in alle Bereiche. Ein Sinnesorgan empfängt immer etwas und wenn es nur ein Flugzeug am Winterhimmel ist. Doch manchmal überlagern die Stimmen der Natur alles und lassen das wohltuende Gefühl großer Ruhe aufkommen.

Am Morgen, im Schutze des Frühnebels, ein Bündel frisch geschnittene Weiden entlang des Fließes gesteckt. So ist es am besten, wenn keiner im Dorf es bemerkt und die Weiden langsam in das Bewusstsein und Blickfeld der Menschen wachsen können. So wird auch keiner der Ordnungsliebenden daran Anstoß nehmen … hoffentlich.

Die Försterin hat in meinem Wald die Bäume rot angezeichnet, die den Buchen weichen müssen, welche hier gepflanzt werden sollen. Alle paar Meter ein Todesurteil. Bin mit dem Messer dem Rot zuleibe gerückt und habe einige besonders schön krumm gewachsene Kiefern und Birken begnadigt. Was schert mich die Ökonomie.

Einen Käfer beobachtet, wie er unablässig gegen eine Scheibe anläuft. Ist es nur der unbändige Drang zur Sonne oder kommt er nur mit dem Phänomen Scheibe nicht zurecht? Etwas, was in seiner Erfahrungswelt und stammesgeschichtlichen Entwicklung nie vorkam, wofür er also nicht konditioniert ist, führt wahrscheinlich zu solch sinnlos, tödlichen Wiederholungen.
Was tun wir Menschen vielleicht aus ähnlichen Gründen nicht alles bis zur Selbstvernichtung?

Landregen auf dem Dorf – In seiner Melancholie verdünnt er unmerklich die Zeit, streckt sie und lässt sie im besten Falle vergessen.

Unter dem Birnenbaum liegt alles voll faulender Früchte. Während wir in Norwegen waren, haben wir die Reife verpasst. Jetzt laben sich an ihrem gärenden Saft zahlreiche Schmetterlinge. Ein kleiner Trost, was meinem Gaumen entgangen ist, wird nun dem Auge gewährt.

Zeit
Nicht mehr
dazwischen ich im Jetzt
Noch nicht

Nur eine Straßenpfütze
und trotzdem passen Wolken und Sonne hinein.

Beobachtung einer Hummel
Schaut man etwas genauer und länger hin, fallen die große Hektik und der scheinbar systemlose Blütenwechsel auf. Vom geruhsamen Naschen keine Spur, hier sind Akkordarbeiter am Werk. Je genauer und vorurteilsfreier ich die Natur beobachte, desto mehr fällt mir der oft ungeheure Leistungsdruck auf, unter dem die Lebewesen stehen. Die idyllischen Bilder verblassen mit dem Wissen.
Die Natur romantisch empfinden, das geht nur als Ignorant – oder als Unwissender.

Bildhauerlos
Während ich in der Hitze des Sommers dem Eisen mühevoll eine Form abtrotze, formt über mir der Wind, spielend leicht, aus Wolken bizarre Gebilde ohne Zahl.

Nicht mal eine Wolke kam heute vorbei.

Die Sprache des Regens wird von
den Blättern übersetzt.

Immer wieder durchbrachen Fische die spiegelglatte Wasserfläche,
um nach den zahllos tanzenden Insekten zu schnappen.
Ein kurzer Wechsel der Elemente.
Lohnt sich solch kraftvoller Sprung für eine mickrige Mücke,
oder ist es nur der Vorwand für ein Spiel und die Befriedigung der
Neugierde zu sehen, was da draußen ist?

Die Zeit produziert vor allem Vergangenheit unter dem Verbrauch von Zukunft.

Am Abend auf einem Hochsitz
Ganz unmerklich beginnt sich der Nebel auszubreiten. Aus kleinen Flecken wird schnell ein weißes Nebelmeer. Aber auch das Weiß des Nebels zerfließt schon bald im Schatten der Dunkelheit und dafür und dafür breitet sich eine große Stille aus, die mir das Gefühl gibt, bis ins Weltall hinaus hören zu können.
Hören, aber nicht verstehen.