14. Jahrgang | Nummer 24 | 28. November 2011

Am Kleistgrab

von Wolfgang Brauer

Ich war heute am Kleinen Wannsee. Am Kleistgrab. Ich war nicht allein. Erst standen etwa 200 Menschen auf dem kleinen Plateau zwischen Bismarckstraße und Seeufer, dann kamen etwa 100 bedeutende Persönlichkeiten unter Anführung des Bundestagspräsidenten dazu: Das renovierte Kleistgrab mitsamt umgestaltetem Areal wurde eingeweiht.
Weil heute vor 200 Jahren, also am 21. November 1811 gegen 15.00 Uhr, der Dichter erst seine Freundin Henriette Vogel und dann sich selbst erschoss und beide hier seit 200 Jahren begraben liegen. Nicht weil man damals an eine Gedenkstätte für die Nachgeborenen dachte. Es war viel banaler. Selbstmörder hatten auf christlichen Begräbnisplätzen nichts zu suchen. Weniger Prominente landeten auf dem Schindanger – Heinrich von Kleist war immerhin preußischer Offizier. Zwar nur ein a. D., aber ein preußischer Offizier habe sich nicht zu erschießen, wie Majestät Friedrich Wilhelm III. – der Gatte Luises, unserem jüngst zur „Königin der Herzen“ geadelten Kinde Mecklenburg-Strelitz’ – befanden. Die Verdammung durch den König, der auf dem Wege von Berlin nach Potsdam hier ständig vorbei musste, kam dann noch dazu.
Das Grab: Lange Zeit vergessen, wurde es spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Entdeckung Kleists als nationaler Größe zum Pilgerort für die gebildeten Anhänger ebendieser, desgleichen für alle verkannten oder sich dafür haltenden Dichter und Dichterinnen. Kleists Grab wohlgemerkt. Henriette lag halt daneben. Dass die Nazis auch Heinrich von Kleist vereinnahmten („Hermannsschlacht“ und das berühmte „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“) bereitete seiner Rezeption in der DDR Probleme und seinem Grabe auch. 1941 „arisierte“ man seinen Grabstein: Der damalige Vorsitzende der Kleist-Gesellschaft, Georg Minde-Pouet, ein wunderbar deutscher Name, stieß sich nicht am eingemeißelten Vers: „Er lebte, sang und litt / in trüber schwerer Zeit, / er suchte hier den Tod, / und fand Unsterblichkeit – Matth.6 V.12“. Ihn störte der Verfasser, der Dichter Max Ring (1817 bis 1901). Ring war Jude. Also wurde das rausgemeißelt und arisch korrekt ersetzt durch ein Zitat aus dem „Prinzen Friedrich von Homburg“: „NUN, O UNSTERBLICHKEIT, BIST DU GANZ MEIN“.
So steht das da noch immer. Aber jetzt auf der Rückseite des Steins. Die Denkmalpfleger haben ihn einfach umgedreht. Das hat den Vorteil, dass man sich das Geburtsdatum aussuchen kann. 1941 entschied man sich für die Eintragung im Kirchenbuch der Frankfurt-Oderschen Garnison, da steht der 18. Oktober 1777. Auf der Vorderseite steht der Tag, den Kleist selbst bevorzugte: der „10. Oct. 1777“. Der Todestag ist identisch. Aber endlich liest man den Namen Henriette Vogel mit ihren Lebensdaten gleichberechtigt mit dem Dichter auf dem Stein. Der schrieb am 19. November 1811 an Marie von Kleist, der ihm sehr nahe stehenden Frau seines Vetters Christian, in einem Abschiedsbrief: „Rechne hinzu, daß ich eine Freundin gefunden habe, deren Seele wie ein junger Adler fliegt, wie ich noch in meinem Leben nichts Ähnliches gefunden habe; die meine Traurigkeit als eine höhere, festgewurzelte und unheilbare begreift, und deshalb, obschon sie Mittel genug in Händen hätte mich hier zu beglücken, mit mir sterben will…“
200 Jahre hat es gedauert, der Gefährtin Heinrich von Kleists den nötigen Respekt zu erweisen. Auch die Sicht auf den See, wohl das Letzte, was sie sah, wurde wieder frei geschnitten. Am gegenüber liegenden Ufer stand „Stimmings ‚Krug’ bei Potsdam“, wo die beiden die letzte Nacht ihres Lebens verbrachten und Kleist den berühmt gewordenen Satz tiefster Verzweifelung an seine Schwester Ulrike zu Papier brachte: „die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.“
Im langsam zu Ende gehenden Jahr erschien eine Vielzahl an Schriften über Heinrich von Kleist, die allesamt den Anspruch erhoben, uns die „Wahrheit“ über den Dichter und sein Werk zu verkünden. Wolf Kittler, Literaturwissenschaftler an der University of California, kommentierte es dieser Tage in der ZEIT so: „Im grellen Licht der Jubiläen fliegt die Eule der Minerva nicht.“ Fahren Sie jetzt, nach dem Jubiläum, an den Wannsee. Schräg gegenüber der Dampferanlegestelle schimmert das Dach der Liebermann-Villa durch die Baumwipfel. Gleich daneben steht die berüchtigt gewordene „Wannsee-Villa“. Halten Sie einen Moment inne und gehen dann den verschlungenen Spazierweg zu den Gräbern Heinrich von Kleists und Henriette Vogels. Und dann denken Sie bitte einen Moment über die merkwürdigen geistigen Verbindungsstränge dieser drei Orte nach. Das ersetzt viele Seiten gelehrter Lektüre.