14. Jahrgang | Nummer 16 | 8. August 2011

Leipziger Ansichten

von Anne Dresden

I. Sehenden Auges durch Leipzig
Beim Betrachten der Fotos, die Thomas Steinert vor 1989 aufnahm, fiel mir ein Satz ein, den der für seine literarische Reportagen bekannt gewordene Schriftsteller Landolf Scherzer im Vorfeld seines 70. Geburtstages in einem Interview formulierte. Demzufolge galt in der DDR schon die wahrhaftige Beschreibung der gelebten Gegenwart in Artikeln als Kritik am Staat.
Gleiches galt auch für die Fotografie. Der größte Teil von Steinerts Fotos aus dem Leipzig der siebziger und achtziger Jahre, die jetzt in dem Band „Sehenden Auges“ erschienen, hätten in der DDR kaum eine Chance auf Veröffentlichung gehabt. Zu wirklich und damit zu fern des propagandistischen Bildes, das die DDR von sich und ihren Menschen hatte, ist, was der in ihrem Gründungsjahr geborene Fotograf mit seiner Pentagon six in schwarz-weiß festhielt.
Leipzig war, gemessen an der Einwohnerzahl von knapp über einer halben Million, noch vor Dresden die zweitgrößte Stadt der DDR. Von Bedeutung war sie wegen ihrer Messe, die im Frühjahr und Herbst für ein paar Tage einen Hauch von Weltläufigkeit in die Stadt brachte. Szenen der Mustermesse findet man in Steinerts Bildband nicht, wohl aber seine erste Serie mit Aufnahmen einer Parade zum 20. Jahrestag der DDR im Jahre 1969. Auch diese Szenen wären als Zeugnisse eines freudvollen sozialistischen Lebens nur bedingt geeignet gewesen.
Aber Thomas Steinert lag ohnehin nichts daran, in den Printmedien des Landes zu erscheinen. Nach seinem Studium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst schlug er sich mehr schlecht als recht als Postkartenfotograf durchs Leben und, indem er für Kollegen in der Dunkelkammer Reproduktionsaufträge ausführte, die besser im Geschäft waren als er.
Seine Leidenschaft war es, die Stadt Leipzig, ihre Bewohner und die Veränderungen im Bild festzuhalten. Das bedeutete auch, in den Straßenzügen außerhalb des Leipziger Stadtrings den Verfall zu dokumentieren. Ein ruinöses Gründerzeithaus ist nur deshalb als bewohnt zu erkennen, weil sich eine Frau aus dem Fenster lehnt. Eine Studentin zeigt sich Seiten später nackt in der Ruine eines Hauses, das mit leeren seinen Fensterhöhlen wie ein Voyeur wirkt.
Auch die 1987 im Bild dokumentierte Faschingsfeier des Connewitzer Carnevalclubs hätte aus Gründen, die mit mangelnder sozialistischer Moral zu erklären gewesen wären, seinerzeit keine Öffentlichkeit finden können. Spärlich bekleidete und obenherum gar entblößte junge Damen hier, Gäste, die mal angeheitert, mal sichtlich ernüchtert in die Kamera blicken, dort.
Von bleibendem Wert ist auch ein Zyklus, den Steinert in den achtziger Jahren in den sogenannten „Reinigungsbädern“ Leipzigs aufnahm. Öffentliche Einrichtungen, in die ging, wer keine eigene Wanne oder Dusche sein eigen nennen konnte. Entsprechend frequentiert waren sie, obwohl die Bäder, von heute aus gesehen, keinen wirklich einladenden Eindruck machten.
Das Buch „Sehenden Auges“ fußt auf dem Band „Connewitzer Welttheater“, der 2006 im Lehmstedt-Verlag erschien und die an DDR-Fotografie interessierte Öffentlichkeit erstmals auf den Fotografen Thomas Steinert aufmerksam machte. Unter dem Titel „Dionysos war hier“ hatte Steinert im Vorjahr auch einen Fotoessay über den Dichter Ernst Ortlepp (1800-1864) und dessen Lebensstationen im mitteldeutschen und schwäbischen Raum vorgelegt.
Der neue Bildband macht deutlich, dass Thomas Steinert – neben Roger Rössing (1929-2006) und Günter Rössler (Jg. 1926) – einer der bedeutendsten Fotografen ist, die Leipzig hat.

Thomas Steinert: Sehenden Auges. Fotografie aus Leipzig 1969-1996. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2011. 159 Seiten, 24 Euro

II. Unser graues Schaufenster zur Welt
Das Leipzig der achtziger Jahre erinnere ich als eine bunte, lebendige und weltläufige Stadt. Betrachtet man Norbert Vogels zwischen 1966 und 1991 entstandene Fotos der Metropole – die der Schriftsteller Uwe Johnson (1934-1984) einst die „heimliche Hauptstadt der DDR“ nannte – erweist sich die Erinnerung als trügerisch. Das mag auch daran liegen, dass die eigene Heimatstadt seinerzeit noch grauer war als die Mustermesse-Stadt, die in der DDR als deren „Schaufenster zur Welt“ bezeichnet wurde. Wenn es so war, dann ist es vorstellbar, dass westeuropäische Besucher wenig Lust verspürten, den Laden hinter diesem Schaufenster zu betrachten.
Norbert Vogel, Jahrgang 1944, lebt in Eichwalde und hat in den sechziger Jahren Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert. Er gewährt uns einen Blick auf sein Leipzig, das er bis zum Einheitsjahr fotografisch begleitet hat. Fürwahr, die Stadt war, nach heutigem Ermessen, ebenso trostlos wie das verfallende Halle, das Helga Paris zwischen 1983 und 1985 fotografiert und in dem 1991 erstmals erschienenen Band „Diva in Grau“ dokumentiert hat.
Norbert Vogels Schwarz-Weiß-Fotos – die weder chronologisch noch thematisch geordnet sind – zeigen uns, sofern man nur in der DDR aufgewachsen ist, unsere Vergangenheit. Denn die Bilder in dem maroden Land ähnelten sich zwischen Arkona und Zwickau. 1981 konnten Kinder in Leipzig-Plagwitz, wie in „Meine graue Stadt“ zu sehen, auf der Straße freilich noch Fußball spielen, weil der Verkehr überschaubar war. Die auf Gewässern schwimmenden Platten, die Norbert Vogel 1977 aufnahm, waren nicht aus Eis, sondern aus geronnenen Phenolrückständen der chemischen Industrie. Und auf vielen Fotos liegt Nebel über Leipzig, von dem man wünscht, er möge nur jahreszeitlich bedingt sein. Realiter handelt es sich um Smog, der auch die Fassaden der Pleiße-Stadt schwärzte. Die letzte Hoffnung, die hier 1989 noch leuchtete, war die Lichtreklame der gleichnamigen Kneipe im Stadtteil Lindenau.
Kaum zu glauben, dass die DDR-Regierung in der Endzeit des Landes mehr oder minder ernsthaft erwogen hatte, sich mit Leipzig als Austragungsort für die Olympischen Spiele 2004 zu bewerben. Das war wohl eine Kurzschluss-Reaktion, nachdem Walter Momper, der damalige Regierende Bürgermeister West-Berlins, Honecker 1989 vorgeschlagen hatte, dass sich beide Teile Berlins um die Austragung der Sommerspiele 2004 bewerben mögen: „Gut, wenn Sie sich mit Westberlin bewerben, dann bewerben wir uns mit Leipzig“, wies Honecker den Vorschlag Mompers entrüstet zurück. (So zu lesen in einem „Dosenöffner für die DDR“ betitelten Beitrag der „taz“ vom 26. August 2009.) Zu einer Bewerbung der DDR kam es natürlich nicht. Sie wäre, auch ohne die Wende von 1989, nicht zu leisten gewesen. Aber auch der 2003 unter anderen politisch-infrastrukturellen Voraussetzungen gestartete Versuch, die Olympischen Sommerspiele 2012 nach Leipzig und in das Umland zu holen, scheiterte.
Bernd Lindner – leider wird dem Leser nicht mitgeteilt, wer dieser Autor ist – irrt sich in seinem einleitenden Essay beim Thema „Hotel Merkur“, dem heutigen „Westin“, gleich zweifach. Das 96 Meter hohe Gebäude wurde nicht von einem schwedischen, sondern von einem japanischen Unternehmen errichtet. Das einstige Interhotel ist auch nicht Mitte der achtziger Jahre erbaut worden. Der Grundstein wurde vielmehr im September 1978 gelegt und am 13. März 1981, mit Beginn der Frühjahrsmesse, wurde es seiner Bestimmung übergeben.
Das Leipzig, das Norbert Vogel im Bild überliefert, stimmt gewiss nicht nostalgisch. Man möchte es so wenig wiederhaben wie die größte DDR der Welt, in der es lag – und verfiel.

Norbert Vogel: Meine graue Stadt. Leipziger Ansichten 1966-1991. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2011. 128 Seiten, 19,90 Euro