14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Geschmackssinn im Niedergang

von Frank Ufen

Lange Zeit galt der menschliche Geschmackssinn als primitiv, grobschlächtig und zu kaum mehr imstande, als zwischen den Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig und bitter zu unterscheiden. Doch mittlerweile weiß man, dass sein Leistungsvermögen in Wahrheit erstaunlich groß ist.
Im Jahre 1908 entdeckte der japanische Chemiker Kikunae Ikeda einen fünften Grundgeschmack („Umami“), der eiweißreiche Nahrung anzeigt. Vor kurzem ist es dem französischen Physiologen Philippe Besnard gelungen, einen Rezeptor ausfindig zu machen, der auf die Wahrnehmung von Fetten im Mundraum spezialisiert ist. Und schließlich ist da noch der Umstand, dass der Mensch das Tier ist, das eine Vorliebe für scharf Gewürztes hat. Das hat einen einfachen Grund: Die für Temperaturmessung und Schmerzempfindungen zuständigen Sensoren werden auch dann aktiv, wenn sie mit scharf gewürzter Kost in Berührung kommen.
Gelegentlich wird darüber spekuliert, ob der menschliche Geschmackssinn noch mehr im Repertoire haben könnte – Süßwasser etwa, oder Alkalisches oder auch Metall. Das ist möglich, aber die Wissenschaft hat hierfür noch keine Indizien entdeckt.
Der menschliche Geschmackssinn und der mit ihm eng verkoppelte Geruchssinn sind gegenwärtig allerdings im Niedergang begriffen – woran offensichtlich in erster Linie der unaufhörlich steigende Konsum von Fast-Food- und Convenience-Food-Gerichten und von industriell erzeugten Nahrungsmitteln, denen reichlich Geschmacksverstärker und künstliche Aromastoffe zugesetzt werden, schuld ist. „25 Prozent der Jugendlichen zwischen zehn und 14 Jahren“, konstatieren der Biologe und Mediziner Hanns Hatt und die Journalistin Regine Dee, „können noch nicht einmal mehr süß, sauer, salzig und bitter unterscheiden, für sie schmeckt alles irgendwie gleich.“ Der Düsseldorfer Mediziner Jürgen K. Mai befürchtet sogar, dass die Verkümmerung des Riech- und Schmeckvermögens mit einer Beeinträchtigung einer ganzen Reihe grundlegender intellektueller Fähigkeiten einhergehen kann und das Risiko erheblich erhöht, dass es im Alter zu neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer kommt.
Denis Scheck und seine Koautorin und Lebensgefährtin, die Ärztin Eva Gritzmann, haben sich mit diesem Buch auf ein verwegenes Unternehmen eingelassen: Sie haben versucht herauszufinden, ob Frauen anderes und Anderes essen, trinken und kochen als Männer und ob sich die Geschlechter auch in ihrem Geschmacks- und Geruchssinn voneinander unterscheiden. Um diese Fragen zu klären, haben Gritzmann und Scheck etliche Gespräche geführt – darunter mit den Schriftstellern Donna Leon, Jeffrey Eugenides, Jan Weiler und Frank Schätzing, mit den Starköchen Vincent Klink, Jamie Oliver, Jean-Claude Bourgueil und Ferran Adriã, mit der Aromaforscherin Andrea Burdack-Freitag und dem Mediziner und Weinkenner Jürgen K, Mai, und nicht zuletzt mit einer Metzgerin, einem Gemüsehändler und einer Winzerin. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Unterschiede, die Gritzmann und Scheck zutage gefördert haben, sind kaum der Rede wert. Bezeichnenderweise leugnet der „dekonstruktivistische“ Koch-Virtuose Ferran Adriã, dass es überhaupt welche gibt. Jamie Oliver hingegen glaubt, fundamentale Differenzen ausmachen zu können, führt sie aber auf den Monatszyklus der Frau, die Schwangerschaft, die Wechseljahre und die Jahreszeiten zurück.
Gritzmanns und Schecks Buch hat zwar sein Thema verfehlt. Aber dafür kann man aus ihm ganz nebenbei jede Menge lernen – beispielsweise wie der menschliche Geschmacks- und Geruchssinn funktioniert und wie man ihn selbst trainieren kann, oder was es mit der „Molekular-Küche“ auf sich hat, oder was die Erfindung des Kochens zur Menschwerdung des Affen beigetragen hat, oder warum Tomatensaft nur im Flugzeug genießbar ist. – Ein exzellentes, mit viel Witz, Wärme und Verve geschriebenes Buch.

Eva Gritzmann & Denis Scheck: SIE & ER. Der kleine Unterschied beim Essen und Trinken, Bloomsbury Berlin, Berlin 2011, 287 Seiten, 18,- Euro