14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Die frühromantische Farbkugel

von Kai Agthe

Man könnte die Lebensgeschichte von Philipp Otto Runge (1777-1810) auch anhand seiner Selbstporträts erzählen. Offen und neugierig schaut der junge, wissbegierige Künstler auf einem Ölbild, das 1802 entstanden ist. Auf dem letzten, 1810 geschaffenen Selbstbildnis, das in dunklen Farben gehalten ist, sieht Runge den Betrachter traurig über die Schulter an, als müsse er wider Willen gehen. Ein Blick, als wüsste er, dass er nicht mehr lange zu leben habe.
Um sich ein Bild von dem frühromantischen Maler und Zeichner zu machen, kann man aber auch seine Briefe lesen. Der Berliner Kunsthistoriker Peter Betthausen, neben Jörg Träger einer der besten Runge-Kenner, hat zu dessen 200. Todestag eine vorbildlich kommentierte sowie schön gestaltete und illustrierte Auswahl mit Briefen von und an Runge herausgegeben. Die Schreiben dieses ebenso bescheidenen wie unvollendet brillanten Künstlers berühren tief.
Die Sammlung beginnt 1795 mit Philipp Otto Runges Übersiedlung nach Hamburg, wo er, der als neuntes von elf Kindern eines Reeders in Wolgast geboren wurde, im Geschäft eines seiner Brüder tätig war und Kunst studierte. Der junge Runge, der bereits im jugendlichen Alter den Scherenschnitt virtuos beherrschte, war, liest man seinen ersten Brief an Bruder Carl, vom Ton her ein Stürmer und Dränger: „Du frägst mir, wie es in Hamburg aussieht! Nu, ganz munter.“ Das hätte so auch der junge Goethe auch über Straßburg schreiben können. Der aufmerksame Leser wird dann Zeuge, wie dieser Mensch reift. Immer öfter artikuliert er in seinen Briefen aus Hamburg und seinen späteren Studienorten Kopenhagen und Dresden eigene ästhetische Überlegungen und Reflexionen zum künstlerischen Selbstverständnis.
Auch Gedanken über Musik, die er vor allem in seinen Dresdener Jahre genießt, und Literatur nehmen einen breiten Raum ein. Ludwig Tiecks Dichtungen, vor allem der Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“, sind eine Entdeckung jener Jahre. Mit ihm pflegt er Umgang in Dresden. Tieck, der Runge mit dem Werk von Novalis und dem „Nibelungenlied“ bekannt macht, hat wesentlichen Anteil an der „romantischen Wende“, die Runge 1802/03 vollzieht. „Das ist ein Jammer“, schreibt er im Dezember 1802 an seine spätere Frau Pauline, „wie viele herrliche Menschen den erbärmlichen Geist für die so genannte Aufklärung und Philosophie haben erliegen müssen.“ Das ist ein Satz, der romantischem Denken und Fühlen entsprungen ist. Und wenn er fragt, „ob wir auf unsre offenbarte Religion nicht eine Kunst bauen können“, so artikuliert Runge hier letztlich den Wunsch, eine romantische Kunstreligion zu begründen. Die Kunst war ihm so heilig, dass er fürchtete, ihr nicht gerecht werden zu können. „Ich habe diese Zeit“, schreibt er 1803 an Bruder Daniel, „einmal wieder recht an mir gezweifelt. So will die Arbeit auch nicht recht fort.“ Auch deshalb, weil Runge stets mit Kunsttheorien rang.
Mit seiner so genannten „Farbkugel“ schuf Runge das erste dreidimensionale Farbsystem. Über dieses korrespondierte er auch mit Goethe. Wie nicht anders zu erwarten, stieß die Theorie bei dem Verfasser der Farbenlehre auf nachhaltiges Interesse. Während aber Runge in seinen Briefen nach Weimar all sein diesbezügliches Wissen ausbreitet, hält sich Goethe, was die eigenen Überlegungen anbetrifft, sehr bedeckt. Zwar schickte er sein Farbenlehre-Buch 1810 an Runge, das konnte der bereits todkranke Maler aber nicht mehr zur Kenntnis nehmen.
Auch die Literatur verdankt dem umtriebigen Runge einen kleinen, aber nachhaltigen Beitrag. Die Märchen „Von dem Machandelbaum“ (von Franz Fühmann als Hörspiel bearbeitet) und „Der Fischer und seine Frau“ (u.a. von Uwe Johnson ins Hochdeutsche übertragen), die er in seiner vorpommerschen Heimat erzählen hörte, schrieb er 1805 in Plattdeutsch auf. Sie erschienen in der Märchensammlung der Brüder Grimm. Zu der Aufzeichnung des „Döhnchens“ „Vom starken Hans“, der, so Runge Ende Mai 1808 an Achim von Arnim, eine Art Herkules sei, ist es aber dann aber aufgrund seiner physischen Verfassung, leider nicht mehr gekommen.
Der wichtigste Korrespondenzpartner in den letzten Lebensjahren war Friedrich August von Klinkowström (1776-1835), ein aus Ludwigsburg bei Greifswald stammender Sohn eines Gutsbesitzers, den Runge als Kommilitonen beim Kunststudium in Dresden kennen und schätzen lernte. Klinkowström ging 1808 nach Paris, später nach Rom, und ließ sich dann in Wien nieder, wo er, ähnlich wie Friedrich Schlegel, zum Katholizismus konvertierte.
Am Ende seines Lebens wechselt Runge Briefe mit Clemens Brentano, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Joseph Görres. Man kann nur ahnen, was an Gedankenaustausch uns verloren gegangen ist, als Philipp Otto Runge am 2. Dezember 1810 der Tuberkulose erlag.

Philipp Otto Runge: Briefwechsel. Eine Auswahl, hrsg. von Peter Betthausen, E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2010, 368 Seiten, 29,90 Euro