14. Jahrgang | Nummer 16 | 8. August 2011

Das Haus in der Fremde ist die Heimat

von Kai Agthe

Hans Keilson war ein „guter Europäer“ im besten Sinne dieses Nietzsche-Philosophems. In dieser Hinsicht ähnelte er dem 1917 in Berlin geborenen und in Paris lebenden Diplomaten und Publizisten Stéphane Hessel. Dieser hatte schon im Jahr 1998 seine Lebenserinnerungen veröffentlicht, Hans Keilson, Jahrgang 1909, die seinen erst vor wenigen Monaten. Kurz nach Erscheinen des Buches ist er am 31.Mai 2011 im biblischen Alter von 101 Jahren in Hilversum gestorben.
Hans Keilson war vor allem Psychoanalytiker, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner Wahlheimat Holland, wohin er wegen seiner jüdischen Herkunft Mitte der dreißiger Jahre geflüchtet war, auf die Behandlung von traumatisierten Kindern spezialisiert hatte. Die Arbeit mit Kindern, die die Shoa zu Waisen gemacht hatte, war für ihn das Wichtigste, das Schreiben hingegen nur phasenweise eine Notwendigkeit. Aber über die positive Resonanz, die seine in den letzten Jahren in den USA und in Deutschland wiederveröffentlichten Bücher fanden, hat er sich ehrlich gefreut. 1933 debütierte er als letzter jüdischer Autor im S. Fischer Verlag. Der Roman „Das Leben geht weiter“ fand jedoch wegen der Nazi-Herrschaft keinen Widerhall.
Die Erinnerungen an die Kindheit und Jugend im brandenburgischen Bad Freienwalde nehmen in den Aufzeichnungen einen breiten Raum ein. Auch über das jüdische Leben in der Stadt wird reflektiert. Die Eltern führten zunächst einen „orthodoxen Haushalt“, wo man streng zwischen milchigen und fleischigen Lebensmitteln unterschied. Diese Lebenshaltung war aber in einer Kleinstadt nur schwer durchzuhalten und wurde bald aufgegeben. Sein Vater, so notiert Hans Keilson im elften Abschnitt, sei ein überzeugter Jude gewesen, aber nicht mehr im religiösen Sinn. Die letzten Schuljahre wurden getrübt von den „unerwarteten gehässigen antisemitischen Ausfällen meiner Mitschüler“. In Berlin, wo er sich ab 1928 zum Sportlehrer ausbilden ließ und Medizin studierte, verdiente er den Lebensunterhalt als Trompeter in einer Tanzkapelle.
1936 nach Holland emigriert, war er, ausgestattet mit falschen Papieren, unter anderem als Kurier für eine antinazistische Untergrundorganisation tätig. Seine Eltern ließ er 1939 nachkommen. Er konnte aber nicht verhindern, dass sie nach der deutschen Besetzung des Landes nach Auschwitz deportiert und in Birkenau ermordet worden sind. Das Trauma, vermeintlich schuld an deren Tod zu sein, hat ihn, den Psychoanalytiker, zeitlebens gepeinigt. In dem Gespräch mit Heinrich Detering, das hier anstelle eines Nachwortes zu lesen ist, sagte Hans Keilson: „Aber das Gefühl der Schuld, dass ich meine Eltern nicht gerettet habe, ist immer da.“ Als ihm seine Schwester nach dem Krieg sagte, dass sie die Eltern gerettet hätte, konnte Hans Keilson ihr das nicht verzeihen.
In Bad Freienwalde erinnern heute eine Tafel am Geburtshaus sowie ein Gedenkstein an den berühmten Sohn. Bereits 1990 wurde er Ehrenbürger der Kurstadt und im Jahr 2004 die Kreisbibliothek nach ihm benannt. 1995 drehte der Filmemacher Wilhelm Rösing die Dokumentation „Bis zur Umkehrbank – Hans Keilson erinnert sich“. Der Filmschaffende Prof. Eberhard Görner hatte vor einiger Zeit mit dem Jahrhundertzeugen ebenfalls ein Filminterview geführt. In Freienwalde gibt es nun Überlegungen, das Geburtshaus des Autors zu einem Literaturzentrum zu machen. Ein Hans-Keilson-Preis wurde bereits gestiftet und erstmals an eine sozial engagierte Gymnasiastin der Stadt vergeben. Bad Freienwalde hatte übrigens noch einen berühmten Bewohner: 1909, in Hans Keilsons Geburtsjahr also, kaufte der Industrielle und spätere Außenminister Walter Rathenau das Schloss Freienwalde, das ihm zehn Jahre als Sommersitz diente, von der preußischen Hofkammer.
Warum Hans Keilson – der aufhörte Deutscher zu sein, als er von der Ermordung seiner Eltern erfuhr – von Deutschland nicht lassen konnte und auch im hohen Alter gern Bad Freienwalde besuchte, erklärt der Autobiograf im siebten Kapitel von „Da steht mein Haus“: „Die Landschaft, in der man geboren und aufgewachsen ist, kann man nicht hassen.“ Und im Interview mit dem Herausgeber ergänzt er: „Ich habe mein Leben lang immer wieder so glückliche Erlebnisse in Deutschland gehabt, dass ich Deutschland nicht hassen konnte.“
Dieses Leben wird in kurzen Kapiteln und einer knappen, unaufgeregten Sprache erzählt. Das Fazit über „Da steht mein Haus“ kann nur lauten: Ein schmaler Band, aber ein großes Buch!

Hans Keilson: Da steht mein Haus. hrsg. und mit einem Gespräch von Heinrich Detering. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2011. 141 Seiten., 16,95 Euro.