14. Jahrgang | Nummer 14 | 11. Juli 2011

Ein böser Ort

von Wolfgang Brauer

Scheinbar am Rande der großen Stadt, eingekeilt zwischen Industriegebiet, S-Bahntrasse und Autobahnzubringer ein Ort der Stille, des Durchatmens unter wunderbar schattigen Bäumen, ein Ort des Friedens und des Innehaltens – der Parkfriedhof am Wiesenburger Weg in Marzahn. Dennoch, wenn Gräber schreien könnten, vernähme man hier vieltausendfaches Leid. Hier war einmal der wohl größte Armenfriedhof Berlins, 1909 eingeweiht. Die Stadt entledigte sich hier der Menschen, die ihr noch im Tode lästig waren. 1934 konstatierte der Lichtenberger Anzeiger und Tageblatt, dass die Tatsache, „daß zur Zeit fast nur noch verstorbene Wohlfahrtspfleglinge in Marzahn beigesetzt werden, … dem Friedhof sein besondere Gepräge gegeben habe.“ Wenige Jahre später wurden hier hunderte Opfer des Bombenkrieges begraben. Hier ließen die Blutrichter des „Volksgerichtshofes“ die Ergebnisse ihrer „Arbeit“ verschwinden: John Schehr und Rudolf Schwarz wurden hier ebenso wie die Mitglieder der jüdisch-kommunistischen Widerstandsgruppe um Herbert Baum bestattet. Auf diesem Friedhof liegen aber auch 1.400 als „Asoziale“ stigmatisierte Menschen, die im Arbeitshaus Rummelsburg starben. Hier wurden mindestens 400 Kinder verscharrt, die die Nazis im Waisenhaus Alte Jacobstraße 33/35 wahrscheinlich schlichtweg verhungern ließen.
In der Erde dieser wunderschönen Parkanlage ruhen aber auch mindestens 1.400 Zwangsarbeiter, etwa 690 stammten aus der UdSSR. Viele kamen während der alliierten Bombenangriffe auf die Reichshauptstadt ums Leben – ihnen wurde das Aufsuchen der Luftschutzräume verwehrt. Am 4. September 1943 starben so im Haus Grenzstraße 16 im Wedding 20 polnische Mädchen und Frauen, die bei der AEG in der Brunnenstraße schuften mussten. Die Jüngste ein 14 Jahre alt gewordenes Mädchen aus Lodz.
Ein besonders perfides, auch in Berlin wenig bekanntes Kapitel in der Geschichte dieses Ortes wurde am 16. Juli 1936 aufgeschlagen. An jenem Tage wurde der „Zigeunerrastplatz Marzahn“, so der offizielle Name, eröffnet. Dem voraus ging ein Runderlass des Reichsinnenministers Frick vom 5. Juni 1936 „Zur Bekämpfung der Zigeunerplage“. Die Reichshauptstadt sollte „zigeunerfrei bis zur Olympiade“ werden. Der Polizeipräsident von Berlin wurde angewiesen, einen „Landfahndungstag nach Zigeunern“ durchzuführen. Das sollte eben jener 16. Juli werden. Zunächst wurden etwa 600 Sinti und Roma in einem Lager zusammengepfercht, das sich auf einem Gelände befand, das zu einer Seite von den Rieselfeldern und zur anderen vom städtischen Friedhof begrenzt wurde. Beides nach den Sittengesetzen dieser Völker unreine, böse Orte, die mit einem Tabu belegt sind. Es ist nicht vorstellbar, dass die akribisch genau arbeitenden, von „Völkerkundlern“ beratenen Beamten davon nichts wussten. Im Laufe der Zeit wurden hier mindestens 1.200 Menschen vom Säugling bis zum Greis, alle Sinti und Roma, derer man in Berlin habhaft werden konnte, manche sprechen auch von bis zu 2.000 Menschen, unter unmenschlichen Bedingungen zusammengesperrt. Häufig findet sich die Benennung „Durchgangslager“, Konzentrationslager wäre zutreffender. Otto Rosenberg beschreibt in seinem Erinnerungsbuch „Das Brennglas“ (1998 bei Eichborn erschienen), wie peu á peu die Menschen aus Marzahn zunächst auf dem Wege über das Polizeipräsidium in der Dircksenstraße – hier befand sich das „Zigeunerdezernat“ – in die anderen Lager verschwanden, bis dann in der Folge eines Erlasses Heinrich Himmlers vom 16. Dezember 1942  im Frühjahr 1943 fast alle anderen Lagerinsassen nach Auschwitz deportiert wurden. Von dort kam fast niemand mehr zurück. Einige „durften“ übrigens noch vor ihrer Ermordung in Leni Riefenstahls – die ja in manchen Darstellungen „nur“ Künstlerin war und eine unpolitische noch dazu – Film „Tiefland“ als Statisten mitwirken. Otto Rosenberg überlebte Auschwitz, er überlebte Buchenwald und er überlebte Ellrich, die Hölle der Hölle Dora Mittelbau. Etwa 100 Sinti und Roma liegen aber auf dem Marzahner Parkfriedhof. Sie starben am Hunger, sie starben an Krankheiten, die mit diesem Lager zu tun hatten. Und sie starben wohl auch am Eingesperrtsein, Verzweiflung kann eine tödliche Krankheit sein. Auch Erna Lauenburger war im Lager Marzahn. Als sie 23 war, wurde sie von Josef Mengele im Auschwitz zu Tode gespritzt. Viele kennen sie unter dem Namen, den die Schriftstellerin Alex Wedding ihr gab: Unku. Von allen elf in ihrem Buch „Ede und Unku“ namentlich genannten Sinti überlebte nur eine Frau: „Kaula“ Ansin.
1986 – das war noch in der DDR, der Aufbau der Großsiedlung Marzahn ging auf sein Ende zu –  wurde im Auftrage des Magistrates ein Gedenkstein für diese Menschen und ihren Leidensweg eingerichtet. Die erste Gedenkstätte für die verfolgten Sinti und Roma in Deutschland überhaupt. Zu danken ist sie der Initiative und der Beharrlichkeit des Pfarrers Bruno Schottstädt von der evangelischen Kirchengemeinde Marzahn-Nord und der des Schriftstellers Reimar Gilsenbach. Bruno Schottstädt starb am 25. April 2000. Er ruht unweit des Sinti-und-Roma-Steines auf dem Marzahner Friedhof. Reimar Gilsenbach starb am 22. November 2001 in Brodowin. Die Gedenkstätte wurde in den letzten Jahren zweimal ergänzt, auch um dem schmerzhaft empfundenen Mangel an Information wenigstens etwas zu begegnen. Regelmäßig treffen sich dort im Juni Menschen, um gemeinsam derer zu gedenken, die hier leiden und sterben mussten. Ein, wie ich finde, würdiger Gedenkort, der nur einen einzigen Makel hat: Der ursprüngliche Ort des Lagers befindet sich wenige hundert Meter nördlich von ihm. Nach der Aufgabe der Rieselfelder wurde dort eine Berufsschule der Deutschen Reichsbahn angesiedelt, nach 1990 baute hier das Landessozialamt. In dessen ehemaligem Gebäude befindet sich heute das Marzahner Don-Bosco-Heim der Salesianer. Lange kämpften Otto Rosenberg als Vorsitzender des Landesverbandes Berlin-Brandenburg der Deutschen Sinti und Roma und seine Freunde für einen Erinnerungsort an der originären Stelle. Rosenberg starb am 4. Juli 2001. Am 16. Dezember 2007 wurden der vor dem Don-Bosco-Heim liegende Platz und die zu diesem führende Straße auf Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung nach ihm benannt. Am 19. Juni konnten Otto Rosenbergs Tochter Petra, sie ist seine Nachfolgerin im Amte, die Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle (Linke) und Innensenator Ehrhart Körting (SPD) den ersten Spatenstich für einen Erinnerungsort „NS-Zwangslager Marzahn“ vornehmen. In Marzahn liegt nicht nur topographisch das Pendant zum mit großem Aufwand „denkmalgerecht“ auf Hochglanz polierten Olympiapark im Berliner Westend.