14. Jahrgang | Nummer 8 | 18. April 2011

Straßenbekanntschaften

von Erhard Weinholz

„Jeder einmal in Berlin“, hieß es in den zwanziger Jahren. Und später, konkreter, noch einmal in den Sechzigern: „… in Berlin, Hauptstadt der DDR“. Doch mussten die Geladenen auch verpflegt, gar mit Quartier versorgt werden – nur wo? Der Slogan wurde bald kassiert. Doch ich habe ihn nicht vergessen: Gelegentlich schaue ich bei meinen Spaziergängen auf die Stadt, als sei ich – endlich – seit langem wieder einmal hier. „Ah… Goldene Zwanziger… Franz Hessel… Flaneur…“. Nichts da, ich pflege nicht zu schlendern. Die nördliche Friedrichstraße lädt dazu auch nicht ein: Einst Ort des Amüsements, wirkt sie heute recht öde.
Ein sonniger, windiger Vormittag, die Luft ist klar und kühl; aus der U-Bahn aufgestiegen, stehe ich, den Fernbahnhof hinter mir, am Admiralspalast. Ringsum viel Neues, doch zuvor ist manch Altes verschwunden: Rechterhand, gleich an der Straße, der weiße Flachbau des tschechischen Kulturzentrums, zuvor schon weiter links, jenseits der Spree, der alte Friedrichstadtpalast, ganz früher mal Zirkus Schumann. „Am Zirkus 1“ war die Adresse der HO-Tanz-Gaststätte im Palast, der „Melodie“, wo man 1964 noch Schnitzel mit Spargel für 3,85 DM und Aal grün mit Gurkensalat für 5,25 DM bestellen konnte. Spargel! Aal! In der DDR, jawoll! In den 70ern gab es hier nichts dergleichen mehr, dafür einmal in der Woche Jazz. „Modern Soul“ etwa mit Klaus Nowodworski, der ein bisschen was Glitzerhaftes an sich hatte. So musste Großstadt sein!
Weidendammer Brücke und der neue Friedrichstadtpalast sind passiert, kleiner Abstecher nach rechts in die Johannisstraße. Irgendwo war hier einmal das „Johanniseck“, beste Eisbeinkneipe weit und breit, noch so ein Flachbau. „Baracke auf Trümmergrundstück“, das fand man im Zentrum Ost noch bis zum Ende der 80er Jahre. Ein Schild weist nach links: „Helga-Hahnemann-Straße“. Straße? Wo? Ein etwas breiterer Trampelpfad führt zwischen Parkplatz und kahler Mauer Richtung Norden, hinüber zur Oranienburger. Vielleicht ein Ulk? Das wäre der Namensgeberin angemessen.
Wieder auf der Friedrichstraße, was sehe ich: Meine gute alte „Bärenschenke“ ist nun auch zu. Das Restaurantschild hat man schon entfernt, nur die Fensteraufkleber „Deutsche Küche“ erinnern noch an die einstige Bestimmung. Während die neuen Etablissements überall mehr oder minder florieren, hat von den alten in der weiteren Umgebung kaum eines überlebt. Die aufwendig gestaltete „Ziegelstube“ am Weinbergsweg, das stampenhafte „Mariola“ am Hackeschen Markt, selbst das ob seiner Torten viel gerühmte „Central“ in der Brunnenstraße, sie alle sind vergangen.
Aus der Friedrich- wird die Chausseestraße. Etwas höchst Merkwürdiges entdecke ich kurz darauf: „Katholische Höfe“, ein fein herausgeputzter Altbau. Dass ein Hof katholisch sein kann, ist wahrlich ein Wunder. Aber eben das passt ja zum Namen. Und ebenso der Laden im Vorderhaus, „Jacques‘ Weindepot“ nämlich. Eine Bierstube wäre hier fehl am Platze…
In dem Haus schräg gegenüber mit der reich verzierten Sandsteinfassade residiert die Bundeszahnärztekammer. Der Hammer im Schild ganz oben unterm Giebel hat damit aber nichts zu tun. Die Borsigs, vor gut hundert Jahren geadelt, haben ihn im Wappen, ihre Zentralverwaltung hatte hier ihren Sitz. Später ging die Firma in Rheinmetall auf, nur der Name ausgerechnet eines volkseigenen Betriebes erinnerte noch lange an sie: Bergmann-Borsig in Wilhelmsruh. Rasierapparate wurden dort unter anderem produziert, „Bergmann Borstig“ nannte Volksmund die Marke.
Ein zweiter Abstecher nach rechts, in die Invalidenstraße, dann erste Querstraße links: Große Neubauten, weitere sind im Entstehen, dazwischen ein ramponiertes, schmales gelbes Backsteingebäude mit der Jahreszahl 1896 über dem Portal – das letzte Überbleibsel des Stettiner Bahnhofs, um das sich die Deutsche Bahn kaum noch zu kümmern scheint.
Über die Zinnowitzer wieder zur Chausseestraße: Was ist denn das für ein Palastbau links auf dem einstigen Stadiongelände? Die künftige Residenz des Maharadschas von Jallapur mit seinen vielen Haupt- und Nebenfrauen und den 5.000 Bediensteten seines Hofstaates? Ein Schild klärt auf: Die neue Zentrale des Bundesnachrichtendienstes entsteht dort. Das ist doch immerhin ein Fortschritt. Wo hätte man früher im Osten je gelesen: „Hier baut das Ministerium für Staatssicherheit eine neue Kreisdienststelle“? Noch besser aber wäre es gewesen, der überflüssigsten aller Bundesbehörden den Umzug von München-Pullach nach Berlin zu ersparen und sie aufzulösen.
Zur Rechten eines der selten gewordenen großen Giebelbilder, ein gewaltiger Bär, darunter „Pösche-Liköre. Die Marke für Anspruchsvolle“ (und der Anspruchslose… guckt wieder mal in die Röhre), schon endet der einstige Stadtbezirk Mitte. Was danach kommt, ist Westen, und da kenne ich mich nicht so aus.