von Wilfried Schreiber
Wer kennt hierzulande schon Kasachstan? Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die US-amerikanische Filmsatire „Borat“ aus dem Jahre 2006. Da ist Kasachstan, aus dem der Fernsehreporter Borat kommt, um in den USA „kulturelle Lernung von Amerika … zu machen“, ein hinterwäldlerisches Land, in dem die Autos mit Pferden gezogen werden, die Einwohner meist betrunken sind oder altmodische Tänze aufführen und Prostitution, Waffenschieberei und die Diskriminierung von Minderheiten an der Tagesordnung sind. Eine Satire – gewiss, aber auf Kosten Kasachstans. Und dann trat Anfang Dezember des vergangenen Jahres Kasachstan noch einmal mit dem OSZE-Gipfel in das Licht der Öffentlichkeit. Nach Meinung der hiesigen Mainstream-Medien war das autokratisch geführte Land eigentlich völlig unwürdig, ein solches Ereignis zu organisieren. Sie umhüllten den Staatengipfel weitgehend mit einem Mantel des Schweigens. Das schlichte Bild dieses Landes in der deutschen Medienlandschaft täuscht. Zweifellos hat Kasachstan nach den Maßstäben der westlichen Demokratie gewaltige Defizite. Moderne Staatsführung hat keine Tradition, ebenso wenig eine selbstbestimmte Zivilgesellschaft. Die Opposition ist schwach. Im Parlament agiert nur die Partei des Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Der ist seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 im Amt. Am 3. April wird er sich zum 5. Male als Präsident wählen lassen. Es gibt keinen Zweifel, es wird wie üblich mit überwältigender Mehrheit sein. Die Versuche des Westens, das System der bürgerlichen Demokratie zu implantieren, zeigen wenig Erfolg. Man mag das bedauern und beklagen.
Aber Kasachstan ist das wirtschaftlich stärkste und politisch stabilste Land in Zentralasien. Dazu noch das neuntgrößte Flächenland unserer Erde – fast so groß wie die Europäische Union vor der Osterweiterung. Aber nur 16,4 Millionen Einwohner! Etwa 64 Prozent davon sind ethnische Kasachen, 25 Prozent Russen und Ukrainer. Insgesamt leben in Kasachstan 113 Ethnien mit 46 verschiedenen Konfessionen ohne größere Spannungen friedlich miteinander. Das spricht für Toleranz und Nichtdiskriminierung. Allein schon diese Dimensionen sind beeindruckend. Kasachstan ist relativ gut durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen. Besonders in den städtischen Gebieten stieg der Wohlstand spürbar an. Die Wachstumsrate des BIP in den zehn Jahren vor der Krise betrug jährlich etwa 10 Prozent, im Krisenjahr 2009 reduzierte sie sich auf 1,2 Prozent. Bis 2014 soll das BIP im Rahmen eines Staatsprogramms zur industriell-innovativen Entwicklung im Vergleich zu 2008 um etwa 50 Prozent wachsen. Das entspricht etwa den Zuwachsraten von China. Die Regierung setzt dabei auf die Bildung eines „einheitlichen Wirtschaftsraumes“ mit Russland und Belarus ab Anfang 2012 und rechnet damit, dass auch Kirgistan und Tadschikistan beitreten. Diese Länder werden damit als Block zu Schlüsselakteuren auf dem internationalen Energieressourcenmarkt. Wichtigstes Infrastrukturprojekt ist der Bau eines internationalen Transitkorridors von Westeuropa bis nach Westchina – eine „Seidenstraße des 21. Jahrhunderts“. Fast 2800 Kilometer davon gehen allein durch Kasachstan. Damit wird es möglich sein, Güter von der EU-Grenze in zehn Tagen bis zu der chinesischen Hafenstadt Lianyungang zu transportieren. Die deutsche Wirtschaft hat das Potenzial Kasachstans erkannt. Kasachstan ist ihr wichtigster Partner in der zentralasiatischen Region. 90 Prozent des Handelsumsatzes und 75 Prozent des deutschen Exports in zentralasiatische Staaten entfallen auf Kasachstan. Zugleich ist Kasachstan für Deutschland der viertgrößte Öllieferant hinter Russland, Norwegen und Großbritannien. 2010 deckte Kasachstan 8,7 Prozent des Erdölbedarfs der Bundesrepublik. Aber Kasachstan ist für Deutschland nicht nur wegen seines Öls interessant. Es verfügt über 98 Prozent der Elemente des Periodensystems als Bodenschätze und ist damit ein strategischer Rohstoffversorger. Dafür ist Deutschland Schlüsselpartner für das kasachische Staatsprogramm „Der Weg nach Europa“, in dessen Rahmen eine „strategische Partnerschaft“ mit Deutschland angestrebt wird. Kasachstan knüpft damit an die traditionell engen Bindungen zu Deutschland an. Schließlich haben bis zur Unabhängigkeit eine knappe Million deutschstämmige Bürger in Kasachstan gelebt – von denen allerdings die Mehrheit in den 90er Jahren nach Deutschland abwanderte. Auch außenpolitisch ist Kasachstan für Deutschland überaus interessant. Am Südostrand der OSZE gelegen hat es unmittelbaren Kontakt zu der Krisenregion um Afghanistan und Pakistan. Gleichzeitig ist es direkter Nachbar von Russland und China, mit denen es durch 9000 Kilometer Landgrenze verbunden ist. Kasachstan befindet sich damit im Schnittpunkt recht unterschiedlicher Akteure. Insofern darf man sich in Deutschland nicht wundern, dass Kasachstan in seiner Außenpolitik keineswegs einseitig auf Europa beziehungsweise die EU fixiert ist. Der „Weg nach Europa“, den auch die Zentralasienstrategie der EU weist, ist für Kasachstan nur einer der möglichen Wege. Im Interesse eines Ausbalancierens der auf dieses Land einwirkenden Kräfte versteht Kasachstan seine Außenpolitik offiziell als multivektoral, was hierzulande oft als Schaukelpolitik verstanden wird. Tatsächlich handelt Kasachstan auf diese Weise sowohl bilateral als auch über verschiedene internationale Organisationen in dieser Region eher ausgleichend und stabilisierend. Bemerkenswert ist hier besonders das Wirken Kasachstans in drei internationalen Organisationen außerhalb der OSZE.
Da ist zunächst die „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ), in der sich außer Turkmenistan die anderen vier zentralasiatischen Republiken sowie Russland und China wieder finden. Mit diesen sechs Staaten vertritt die SOZ etwa 25 Prozent der Weltbevölkerung. Offizielle Schwerpunktaufgabe der SOZ in der Gegenwart sind die Gewährleistung der regionalen Sicherheit und die vertrauensvolle Zusammenarbeit auf den Gebieten Handel und Wirtschaft sowie im Investitionsbereich. Aufgefallen ist die SOZ vor allem durch eine Reihe militärischer Großmanöver in den Jahren 2005, 2007 und 2009, was westliche Beobachter als Signal der Abwehrbereitschaft gegen den wachsenden Einfluss der USA in Zentralasien bewerteten. Dem Aufbau einer eigenen Militärorganisation der SOZ hat sich Kasachstan aber bisher entgegengestellt. Kasachstan ist auch Mitglied in der „Organisation der Islamischen Konferenz“ (OIC), die für sich in Anspruch nimmt, seit ihrer Gründung 1969 die gesamte islamische Welt zu repräsentieren. Hier sind gegenwärtig 57 Länder vertreten, darunter alle islamisch geprägte Länder des afrikanisch-arabischen Krisenbogens von Marokko über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Pakistan. Die aktive Rolle Kasachstans zeigt sich darin, dass es 2011 den Vorsitz sowohl in der Organisation der Islamischen Konferenz als auch in der Shanghaier Organisation ausübt. Im westlichen Europa am wenigsten wahrgenommen wird eine Organisation, die bereits 1998 auf Initiative des kasachischen Präsidenten gebildet wurde: die „Konferenz für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien“ (CICA) – also eine Art OSZE für den Raum zwischen NATO und SOZ. Dabei gehören dem Forum sowohl das NATO-Mitglied Türkei als auch die SOZ-Länder Russland und China an. Insgesamt hat die Organisation gegenwärtig 22 Mitglieder, wozu auch Afghanistan, Pakistan, Indien und der Iran sowie Israel, Palästina (PLO) und Ägypten gehören – eine bunte Gesellschaft mit vielen ungelösten Problemen. Beobachterstatus haben unter anderem die USA, die UNO, die OSZE und die Arabische Liga. Kasachstan hatte die Ratspräsidentschaft über diese Organisation im Juni 2010 an die Türkei übergeben. Wahrscheinlich wird die CICA die zahlreichen Probleme dieser Gruppe genau so wenig lösen können wie die OSZE die ihren – ein Forum für den Dialog und die schrittweise Bildung von Vertrauen ist sie alle Male. Es deutet viel darauf hin, dass die Türkei den gleichen Ehrgeiz für eine Diplomatie der Konfliktlösung entwickelt wie Kasachstan.
Den politischen Eliten in Deutschland – vor allem aber den Medien – fällt es schwer, Kasachstan als eigenständigen und selbstbewussten Staat ernst zu nehmen. Noch immer dominiert hier die Vorstellung, dass Kasachstan nach westlichen Vorstellungen missioniert werden müsse. Dabei könnte dieses Land für die Europäer bei der gemeinsamen Lösung der zahlreichen Probleme in den südlichen und südöstlichen Randregionen Europas ein aktiver Partner und Vermittler sein. Als engagiertes Mitglied zahlreicher Regionalorganisationen hat es beste Voraussetzungen dazu. Bei etwas mehr Geduld hinsichtlich der Demokratisierung müsste man sich in Deutschland eigentlich nur darüber Sorgen machen, wer einmal das Erbe von Nursultan Nasarbajew antreten wird.
Anm. d. Red.: Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 3. April 2011 konnten noch keine Berücksichtigung finden.
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