14. Jahrgang | Nummer 7 | 4. April 2011

Doppelter Büchner am Theater Rudolstadt

von Kai Agthe

Eine Kompilation aus Georg Büchners berühmter Lenz-Novelle (1835) und seinem Lustspiel „Leonce und Lena“ (1836) – das klingt nach einem Abend von „Tristan und Isolde“-Länge. Am Theater Rudolstadt hat man jedoch bündige Kurzweil kreiert. Das Bühnenstück wurde von Regisseur Matthias Reichwald mit dem Prosastück kombiniert und mittels Kürzungen auf eine Spielzeit von schlanken 75 Minuten komprimiert. Erstaunliche Parallelen lassen sich erkennen, wenn man die scheinbar so unterschiedlichen Büchner-Texte verknüpft: Sowohl Leonce als auch Lenz fühlen eine abgrundtiefe Leere in sich. Diese Leere ist bei Leonce pure Langeweile, bei Lenz psychisches Leid. Leonce widert sein Leben als Thronfolger ebenso an wie Lenz seine äußerlich wie innerlich zerlumpte Existenz. Da beide am Suizid scheitern, leben sie so hin: Leonce als Gefangener seines künftigen Daseins als König, Lenz als Häftling seiner Seele. Wohl keinem Autor gelang es zuvor, diese psychologischen Deformierungen so differenziert und überzeugend ins literarische Wort zu fügen wie dem Dichter-Arzt Büchner.
Noch im Dunkeln erklingt eine E-Gitarre, die, wie sich zeigt als auf der Bühne das Licht erstrahlt, live gespielt wird. Und zwar von Matthias Manz, der die Musik auch komponiert hat und den geschundenen Lenz verkörpert. Büchners Novelle ist der große Monolog eines personalen Erzählers und bleibt es auch innerhalb der Bühnencollage. Als Akteur steht Matthias Manz stets neben den Figuren Leonce, Valerio und Rossetta, auch wenn er sprechend, Gitarre oder Trompete spielend, zwischen sie tritt. Dennoch verbinden Lenz und Leonce, siehe oben, mehr als die Alliteration ihrer Namen. Sie sind verzweifelt bemüht, den Abgrund in sich zu füllen, was dem vom Überfluss umgebenen Kronprinzen aber so wenig gelingt wie dem armen Lenz. Die Bühne (Ausstattung: TOTO) ist nüchtern gestaltet, in schwarz, weiß und rot gehalten, so dass sie, trotz fehlender Einrichtung, eher den Eindruck eines teuren Penthouse-Apartments als eines königlichen Palastes vermittelt. Die zeitlose Sachlichkeit des Bühnenbildes und der Kostüme (Leonce, Lena und Valerio tragen schwarze Hosen zu weißen Hemden) entspricht der Zeitlosigkeit der in „Lenz“ und „Leonce und Lena“ behandelten, ja sezierten Themen.
Anfangs will Leonce – glänzend in seinem quasi irren Pendeln zwischen den emotionalen Extremen: Benjamin Griebel – seinem sinnlosen Leben, die silberne Pistole schon an der Schläfe, ein Ende bereiten. Das wissen Rosetta und Valerio zu verhindern. Die müssen mit Macht für Zerstreuung sorgen, weil ihr Wohl und Wehe von Leonce‘ Laune abhängig ist. Ewa Rataj und Marcus Ostberg könnten mit der Energie, mit der sie den Prinzen zu unterhalten versuchen, das ganze nächtliche Rudolstadt samt Residenzschloss Heidecksburg illuminieren. Eine Spielerei sind hunderte weiße Stoffhasen, die am Beginn vom Schnürboden fallen. Die Plüschis dienen – da Leonce, Rosetta und Valerio mit einer orientierungslosen Polonaise eine imaginäre Flucht nach Italien antreten – unter anderem als Mittelmeer, in das sie vor der Langeweile des Daseins abtauchen. Ein andermal stopfen sie, wie die Kinder, mit den Hasen ihre Kleider aus.
Das Personal aus „Leonce und Lena“ ist in der Rudolstädter Adaption im Grunde auf die drei Genannten reduziert. Am Ende erscheint zwar noch der König (Horst Damm), um seinen Sohn an dessen Pflichten zu erinnern. Doch breitet sich mit ihm nur höfische Lethargie aus, wo zuvor Hyperaktivität war. Auf des Vaters Befehle entgegnet der zuvor redselige, jetzt aber seltsam paralysierte Leonce nur mit einem wiederholten „Ja, Vater.“ Der Monarch stellt ihm mit dem Hinweis „Das ist Lena aus Hannover“ auch die künftige Gemahlin vor. Diesen Kalauer hätte niemand vermisst, wenn man ihn nicht gebracht hätte. Denn Büchners Lena vom Reiche Pipi wird man noch kennen, wenn nur noch Wikipedia weiß, wer Meyer-Landrut war. Zwar tritt auch Prinzessin Lena (Laura Göttner) auf, hat aber keinen Sprechanteil. Sie kommt, steht, schweigt, greift zu der Pistole, mit der sich Leonce erschießen wollte, und geht bald wieder ab. Auf diese Figur hätte man, da sie in Matthias Reichwalds Regiekonzept dramaturgisch nicht wirklich motiviert und also erforderlich ist, durchaus verzichten können.
Der Rudolstädter Minimalmix aus „Lenz“ und „Leonce und Lena“ bietet nicht nur kompakte Unterhaltung, er kann auch jungen Zuschauern klassische Dichtung nahe bringen. Stücke wie diese Büchner-Adaption, die tragisch und komisch, absurd und albern ist, können einen Beitrag leisten, um die juvenile Lust am Theater zu befördern und nachhaltig zu festigen.