14. Jahrgang | Nummer 7 | 4. April 2011

Der Balkon von vis-à-vis

von Renate Hoffmann

Zuerst sah ich den Laden; ein Lädchen. Es liegt in einer Straße von Františkovy Lázne (Franzensbad) und heißt „Preciosa“. Eigentlich ist es nicht klein. Aber die beiden Schaufenster, im Übermaß gefüllt mit Glas von „Moser“, Porzellan von „Melcer“ und Allerweltszeug dazwischen, erwecken den Eindruck räumlicher Enge. Der Ladenbesitzer, ein junger Mann, lehnt an der geöffneten Tür und ruft etwas nach oben. Nun sehe ich ihn – den Balkon. Umschlossen von einem grünen Gitter, dessen geschwungenes Muster, von Rosetten gehalten, im Wechsel wiederkehrt. Zwei Frauen beugen sich über die Brüstung, gestikulieren und schwatzen lebhaft mit dem „Preciosa“-Besitzer. Kundschaft unterbricht das Gespräch.
Eine Kartäuserkatze balanciert auf dem Geländer und springt wagemutig zu einem Mauervorsprung hinüber. Sie lässt sich geordnet nieder und beobachtet aufmerksam das Treiben der Straße. Doch es treibt sich nicht viel, dort unten. In den beiden Blumenkästen stecken verdorrte Reiser, noch ist kein Geblühe zu sehen. Die Balkonbesitzerinnen tragen eine Wanne heraus, spannen Leinen und befestigen Blusen, Pullover, Handtücher, bunte Röcke daran. Ein Lüftchen bewegt die Wäsche. Es stört die Katze. Sie verlässt ihren Aussichtsplatz und verschwindet hinter der angelehnten Tür.
Der junge Mann vom Allerweltslädchen schließt eine Stunde früher. Kaum jemand blieb am späten Nachmittag noch vor den Auslagen stehen oder trat bei ihm ein. Und auf dem Balkon ist niemand mehr. Mit wem soll er reden? Er sichert die Tür, besteigt sein Fahrrad und fährt davon.
Die Wäsche trocknete über Nacht. Zeitig schon nimmt sie eine der beiden Frauen, die Lockenköpfige, von der Leine und legt sie, sorgfältig gefaltet, in die Wanne. Die andere, die mit dem langen gescheitelten Haar, bringt den Katzennapf heraus. Aber die „Kartäuserin“ ist genäschig. Sie schnuppert am Inhalt, wendet sich appetitlos ab und geht in’s Haus. Die Tür wird hinter ihr geschlossen. Warteten die Vögel darauf? Zeternd fällt ein Schwarm Spatzen ein und stürzt in hungriger Eile mitten hinein in den Futternapf. Von Tauben vertrieben, stiebt die Schar auseinander und lässt sich auf dem Geländer nieder, die Gunst des Augenblicks erwartend. Amseln mischen sich ein. Lärmender Wirbel. Eine dunkle Feder trudelt in der Luft. Hinter dem Fenster neben dem Balkon sitzt die Katze, angespannt, begehrlich. Sie springt an der Scheibe hoch, missachtet die Vergeblichkeit ihres Tuns und versucht es auf’s Neue. – Im Handumdrehen ist draußen der kleine Trog geleert – und das wilde Spiel beendet. Auf dem Balkon herrscht Stille.
Gegen Abend weht der Vorhang durch die weitgeöffnete Tür. Die beiden Frauen stellen vorsichtig Gläser und eine Weinflasche auf den Tisch. Sie lachen, rauchen, trinken einen Schluck und legen die Beine hoch. Die Katze springt der Lockenköpfigen auf den Schoß. Die andere winkt dem jungen Mann vom Lädchen einladend zu. Er hebt bedauernd die Schultern und schüttelt den Kopf. Sie wirft ihm eine Zigarette hinunter, die er geschickt auffängt. – In der Nacht fällt Regen. Des Morgens früh sind Tisch und Stühle vom Balkon geräumt. Ein großer Fleck an der Hauswand von abgebröckeltem Putz wird sichtbar. An Fenster und Tür hat man die Gardinen zugezogen. Nichts regt sich. Auch am Abend nicht. Und nicht bei Tagesbeginn. So vergeht die Zeit. Der Balkon bleibt verwaist.
„Die Frauen sind verreist“, antwortet der Ladenbesitzer, als ich ihn besorgt frage. „Nach Prag. Dort soll es Arbeit geben. – Sie werden wohl ausziehen“, sagt er traurig. „Aber dann wollen sie mich besuchen. Und sie haben mir ihre Katze geschenkt. Zum Andenken.“