14. Jahrgang | Nummer 6 | 21. März 2011

Vögel, sturmverirrt

von Lothar Quinkenstein

… nirgends am Himmel steht geschrieben,
daß der Stern ein Stern ist.
(Pawel Florenski, Homo faber)

Meer,
brandungsgrün,
bäumt sich,
stürzt
rauschend salzweiß,
wirbelt
Muscheln und Kies.

Sergijew Posad,
in der Stille am Schreibtisch
kehrt er zurück an den Strand,
zu den Mulden, gestochert mit Treibholz,
und immer noch staunend
sieht er das Wasser
steigen, zerreißen
das Schaumgespinst, sieht
Steine schimmern im blanken
Morgen von Batum.

Gewaschene Farben,
geschliffen, gehöhlt,
zerrieben, zerstreut,
von neuem geschichtet,
Wellenspur,
kristallin.
Eben weil wir
nicht von flüchtigen
Träumen umgeben sind, die sich,
kraftlos und blutleer,
nach unseren Launen richten,
sondern von einer Wirklichkeit, die
ihr eigenes Leben lebt und in Beziehung
zu anderen Wirklichkeiten steht,
wird von uns Anstrengung verlangt,
immer aufs neue
Beziehungen
zu ihr zu knüpfen.

Dass man also
den Phänomenen trauen könne,
ohne Materialist zu werden,
die Seele glauben,
ohne dem Gnostizismus huldigen zu müssen,
denn das Verhältnis dessen, was strahlt,
zu dem, was durchstrahlt wird,
ist nichts Äußerliches.
Mit anderen Worten: Die Hüllen
decken das Wesen nicht zu, sondern auf.

Zu Fragen der Politik
habe ich so gut wie nichts zu sagen,
notierte er, dem Missverständnis zu begegnen,
er breite über Machenschaften
den Deckmantel der Wissenschaft,
doch die ein für allemal entschlüsselte Geschichte
duldet keine Diskontinuitäten,
imaginären Größen, umgekehrten Perspektiven,
duldet nicht
die Anwendung der Relativitätstheorie
auf Dantes Göttliche Komödie.

In seinen letzten Briefen schrieb er
Trost seiner Frau, riet seiner Tochter
Geduld beim Lernen,
empfahl Lektüren für die Jüngste,
schrieb von zahmen Füchsen,
seltenen Vögeln, sturmverirrt,
schrieb, wie schwer das Schreiben fällt
in dieser Junimorgenstunde, schrieb
vom Tosen des Windes,
den Schreien der Möwen,
der Nichtigkeit menschlicher
Werke im wirbelnden Schnee.