14. Jahrgang | Nummer 6 | 21. März 2011

Kairos in Kairo?

von Heerke Hummel

Wird es in Ägypten und anderswo beim „Vom Regen in die Traufe“ bleiben? Zweifellos war ein günstiger Zeitpunkt für eine Entscheidung – Kairos – zu grundlegendem gesellschaftlichen Wandel in mehrfacher Hinsicht gegeben, als die Hauptstadt am Nil, „die Starke“ (arabisch al-Qahira), sich erhob, um das Joch einer jahrzehntelangen Despotie abzuschütteln. Bedeutender als der „tunesische Anstoß“ dürfte in dieser Hinsicht die Überreife der Weltgesellschaft sein, die von einer Krise in die nächste taumelt, weil sie nicht in der Lage ist, die zügellose Skrupellosigkeit zu überwinden und politische Strukturen so zu ordnen, dass ihre produktiven Kräfte unter Kontrolle gebracht und zum Wohl aller entfaltet werden. – Und dies nun schon seit hundert Jahren!
Zwei furchtbare Weltkriege, unsagbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermorde, Kolonialismus und Neokolonialismus, weltweite Wirtschafts- und Finanzkrisen kennzeichneten das 20. Jahrhundert als – wie uns dereinst gelehrt wurde – „Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“. „Sozialismus“ nannte sich selbst, was da auf einem Sechstel des Erdballs folgte. Und als es sich im Alter von 70 Jahren scheinbar in Luft auflöste oder besser gesagt rückverwandelte, schien ein Problem aus der Welt zu sein; auch das geistige Erbe eines W. I. Lenin, der, ehe noch das „sozialistische“ Experiment begonnen hatte, bereits die damalige Gesellschaft als Imperialismus und parasitären, faulenden Kapitalismus charakterisierte. Welche Worte fände er wohl für die heutige in ihrer unfassbaren Irrationalität? Wahnsinn in allen Dimensionen menschlichen Denkens und Handelns als Merkmal einer Krise der Welt!
Wahnsinnige brachten die Völker der Erde seit einem Jahrhundert immer wieder an die Macht, von Wahnsinnigen ließen sie sich verführen, um sich dann von ihnen zu befreien oder befreien zu lassen. Und sie nennen es noch immer Demokratie, an die sie glauben wie an einen paradiesischen Zustand – bis die Realität des Elends sie aus dem eigenen Wahn reißt. Dann folgt der nächste demokratische Akt, der nächste Umsturz, um in die nächste Malaise zu münden, die sich von der vorigen nur durch die handelnden Personen und vielleicht noch durch ihren inneren Mechanismus unterscheidet.
Was wir derzeit an Kämpfen gegen Despotien beobachten können, ist in vieler Hinsicht beeindruckend, bis hin zu den neuen technischen Mitteln und den modernen Organisationsformen des Kampfes sowie dem Ideenreichtum der Organisatoren. Der Mut und die Opferbereitschaft der Revoltierenden sind Folge ihrer immensen Unzufriedenheit mit der eigenen Lage, des dramatisch zugespitzten Widerspruchs zwischen ihren Potenzen und der realen Möglichkeit, ein den Produktivkräften des 21. Jahrhunderts gemäßes Leben zu führen, gute Arbeit zu leisten und dementsprechenden Anteil am Reichtum dieser Welt zu haben.
Subjektiv gesehen wird gegen nationale Gewaltherrschaften gekämpft. Objektiv geht es um viel mehr, handelt es sich um eine Revolte des Südens gegen den Norden. Denn die nun attackierten, teilweise verjagten Despoten konnten ihre Herrschaft nur errichten, weil sie von den Industriemächten des Nordens als deren neokoloniale Statthalter gebraucht, geduldet, finanziell und militärisch unterstützt wurden – allem sonstigen Gefasel von Demokratie und Menschenrechten, von freier Wahl des Arbeitsplatzes und des Wohnsitzes zum Trotz.
Werden sich die Existenzbedingungen der revoltierenden Massen mittelfristig wesentlich verbessern, oder werden nur die Herrschaften ausgewechselt und ihre Herrschaftsmethoden – zum Nutzen einer relativ geringen Zahl von Gewinnern am Umsturz – verändert? Wird die Revolte dann eine Revolution gewesen sein, die diesen Namen verdient? Das ist zwar nicht gerade wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich. Dagegen spricht, dass die Umstürzler kein aussichtsreiches Programm für eine Befreiung von der ökonomischen Beherrschung durch die Industrieländer zu haben scheinen, ja sogar widersprüchliche Interessen verfolgen. Gelingt diese Befreiung aus der technisch-technologischen und ökonomischen Umklammerung der Industrieländer nicht, so dürfte sich nur wenig an der Lebenslage der Bevölkerungsmehrheit in dieser Region ändern.
Es gibt die Chance, sich mittelfristig ökonomisch von den Industrieländern zu befreien. Sie resultiert vor allem aus deren gewachsener ökonomischer Abhängigkeit von den Energie- und Rohstoffressourcen der neokolonial ausgebeuteten Völker. Um diese Chance zu nutzen, bedürfte es einer national und regional orientierten Entwicklungspolitik dieser Länder. Diese dürfte sich nicht an den Renditen des internationalen Finanzkapitals orientieren, sondern müsste sich vielmehr von den sachlichen und kulturpolitischen (insbesondere bildungspolitischen) Bedürfnissen dieser Regionen im Interesse ihrer harmonischen ökonomischen und allgemein gesellschaftlichen Entwicklung leiten lassen. Ein echter Umbruch im Denken und Handeln wäre also erforderlich, verbunden mit wesentlichen Veränderungen der Tausch- und Preisrelationen zugunsten der „Entwicklungsländer“. Dass solcher Wandel früher oder später kommen wird, steht außer Frage. Offen ist nur: Von wo wird er ausgehen, wer wird ihn einleiten? Wird man nun, nachdem sich das Experiment von 1917 als so problematisch erwies, ein zweites Mal versuchen, das Pferd „Weltgesellschaft“ vom Schwanze aufzuzäumen? (Lenin hoffte ja am Beginn seiner Sozialisierungspolitik, Westeuropa würde dem russischen Beispiel bald folgen.)
Dass die hoch industrialisierte Welt diesmal vorangehen wird, ist bislang nicht zu erkennen. Sie wirtschaftet und denkt noch immer nach den alten Mustern, in den veralteten Dogmen frühbürgerlicher ökonomischer Theorien von privater kapitalistischer Marktwirtschaft. Dass Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ihren privaten Charakter längst verloren haben, ihrem Wesen nach zu einer öffentlichen Angelegenheit der Weltgesellschaft geworden sind, will sie – allen überdeutlichen Anzeichen und auch der theoretischen Logik zum Trotz – nicht wahrhaben. Denn in alle öffentlichen Regeln ist der „Bürger“ bereit sich zu fügen, außer solchen, die seine individuelle Freiheit beim Eigentumserwerb beeinträchtigen. Das private Eigentum an sich ist ihm heilig. Eine tiefe Angst für Leib und Leben bestimmt sein ökonomisches Denken, das in seiner Naivität glaubt, wenn andere reicher werden, müsse dies den eigenen Wohlstand schmälern. So hieß es kürzlich in BÖRSE ONLINE, dass Volkswirte seit Längerem davor warnen, dass aus den boomenden Schwellenländern ein dauerhafter Preisschub auf den Euro-Raum überschwappen könnte, weil höhere Löhne und Produktionskosten Importe aus den Schwellenländern deutlich verteuerten. Die Einkommensentwicklung führe dazu, dass sich der Proteingehalt in der Nahrung deutlich gesteigert habe, sagte Bundesbankpräsident Weber. Weil dafür mehr Energie gebraucht werde, verteuere sich dadurch auch die Nahrung.  Nahrungsmittelknappheit aufgrund von Teuerungseffekten sei Weber zufolge ein reales politisches Problem.
Dies ist die Logik von Ökonomen, die nur an und in Geld denken können, die Geld mit sachlichem Reichtum gleichsetzen, seine Vermehrung als das oberste Ziel allen Wirtschaftens betrachten. Sie verstehen nicht, dass die Existenzgrundlagen der Menschheit von der Größe und vom wohlstrukturierten Einsatz ihrer produktiven Kräfte abhängen, dass sie also bei mehr ökonomischer Vernunft unter anderem dadurch umfangreicher werden, dass die gegebenen Potentiale – auch die der Entwicklungsländer –vollständig genutzt und zugleich auf alles Unnötige, das die produktiven Kräfte heute behindert und schmälert, verzichtet wird.
Zu befürchten ist, dass sich so manche Hoffnung, die im arabischen Raum zum Aufstand führte, als trügerisch erweisen wird.

Weiterführende Bücher des Autors: Gesellschaft im Irrgarten, NORA-Verlag, Berlin 2009; Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum, Projekte-Verlag, Halle 2005