14. Jahrgang | Sonderausgabe | 17. März 2011

IM wie Ibrahim Manfred

von Lars Berthold

In Günter Grass‘ „Ein weites Feld“ breitet der abgehalfterte Stasi-Mann Hoftaller in einem Gespräch mit Fonty Wuttke „einige Fälle“ früherer Informeller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit aus und erwähnt auch den „sozialdemokratischen Fall Ibrahim Böhme“. Der Roman erschien 1995. Manfred „Ibrahim“ Böhme hätte seine Literarisierung in dem Deutschlandroman des späteren Nobelpreisträgers noch wahrnehmen können. Doch in diesen Jahren war er bereits von Alkoholsucht und Krankheit gezeichnet. Die vielleicht seltsamste Figur, die im DDR-Personenlexikon enthalten ist, starb am 22. November 1999 in Neustrelitz; ohne ein Wort der Entschuldigung gegenüber jenen gefunden zu haben, die er an das MfS verraten hat. Und wie sich zeigt, war Manfred Böhme, der 1990 bei den ersten freien Wahlen in der DDR als SPD-Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten ins Rennen ging, ein IM, der bis 1989 ohne Skrupel jeden, auf den er angesetzt war, dem Mielke-Ministerium zutrieb.
Christiane Baumann hat im Auftrag der Robert-Havemann-Gesellschaft Berlin eine Biografie über Böhme verfasst. Sie nennt ihr Buch im Untertitel einen „rekonstruierten Lebenslauf“. Das mag überraschen, weil doch die Biografik an sich Lebensgeschichten nur rekonstruieren kann. Doch Manfred Böhme, der am 18. November 1944 in Bad Dürrenberg geboren wurde, ist ein besonders schwieriger Fall: Er hat so viele unterschiedliche und schnell wechselnde Legenden über sich verbreitet, so dass es schwer ist, zwischen Wahrheit und Lüge zu trennen.
Böhmes Lebensstationen hießen Greiz, Gera, Neustrelitz und Berlin. Mit fast jedem Wohnort wechselte seinen IM-Namen. Aufgeflogen ist er 1990 unter anderem durch das Buch „Deckname Lyrik“ von Reiner Kunze. Den Lyriker hat Böhme in Greiz ebenso ausspioniert wie Günter Ullmann (1946-2009). Kunze verließ die DDR 1977, Ullmann wurde psychisch krank und blieb es zeit seines Lebens. Ursächlich verantwortlich war auch Böhme alias IM „Paul Bonkarz“. Dennoch verzieh Ullmann ihm und gab 1996 sogar ein Bändchen mit Gedichten Böhmes heraus.
Egal, ob in der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ oder bei der Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR: Böhme, der sich Ende der siebziger Jahre den Vornamen „Ibrahim“ und eine jüdische Herkunft zulegte, engagierte sich mit Inbrunst und doch einzig auf Geheiß der Stasi. Dass er 1978 nach einer Flugblattaktion am Magdeburger Hauptbahnhof vom MfS verhaftet und aus der SED ausgeschlossen wurde, machte ihn bei DDR-Kritikern vertrauenswürdig. Was man aber nicht ahnen konnte: Die Flugblätter hatte Böhme nur deshalb verstreut, um wieder die Aufmerksamkeit des MfS zu bekommen. Der Coup gelang. Und der fast schon ausgemusterte IM wurde wieder mit Aufgaben betraut.
Er hatte Charme und gute Manieren, war immer korrekt gekleidet und sprach akzentfreies Deutsch. Die Gunst der Herren errang Böhme bei Treffen der kirchlichen Friedensbewegung und der DDR-Opposition, zu denen ihn das MfS in den achtziger Jahren regelmäßig schickte, durch sein stets abrufbares Wissen und seine Eloquenz; die Herzen der Damen eroberte er, weil er bei solchen Gelegenheiten freiwillig die Tische abräumte und den Abwasch übernahm. Gab es in Böhmes Leben je einen vertrauten Menschen? Jein. Er war von 1975 bis 1986 verheiratet und hatte auch eine Tochter. Doch mit Frau und Kind lebte er wohl nie zusammen.
Schon in Greiz, so der dort lebende Journalist Volker Müller, ging Böhme ein „legendärer Ruf“ voraus: „Es hieß, er würde Handküsse verabreichen, wäre schon einmal am helllichten Tag im Schlafanzug durch die Stadt spaziert und sei überhaupt fast so etwas wie ein Genie.“ Diese Aura umgab Böhme so lange, bis 1990 seine Stasi-Verstrickung ruchbar wurde. Tief war der Fall: Vom Vorsitzenden der Ost-SPD zu einem von den Weggefährten Geächteten, der sich bis hinein in seine 70 Seiten umfassende Autobiografie keiner Schuld bewusst war.
Nach Birgit Lahanns Buch „Genosse Judas – Die zwei Leben des Ibrahim Böhme“ (1992), dem Dokudrama „Der Mann im schwarzen Mantel“ (1994) und Eugen Ruges Theaterstück „Akte Böhme“ (UA 2001) ist Christiane Baumanns Biografie ein wichtiger Beitrag zum Verständnis eines zeitlebens um Anerkennung ringenden Menschen, für den, wie bitter, allein das Ministerium für Staatssicherheit seine Familie war, von der Böhme geliebt werden wollte.

Christiane Baumann: Manfred „Ibrahim“ Böhme. Ein rekonstruierter Lebenslauf. Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs, Bd. 15, Berlin 2009. 193 S., 10,- Euro