14. Jahrgang | Nummer 2 | 24. Januar 2011

Rudo Schwarz’ – kretische Impressionen

von Klaus Hammer

Kreta, die größte Insel Griechenlands, ist eines der von Deutschen favorisierten Urlaubsziele. Herrliche Badestrände, eine imponierende Gebirgslandschaft, eine fünftausendjährige Kultur, die man in geringen Entfernungen durchmessen kann, ziehen die Touristen magisch an. Eine Reise nach dem lichtdurchfluteten Kreta ist eine Reise zur Wiege der Zivilisation, in das Mutterland unserer Ideen, zu den Ursprüngen unserer Vernunft, zur Quelle unserer Träume, Sagen und Mythen.
Die wenigsten deutschen Urlauber machen sich aber darüber Gedanken, dass die Kreter während der deutschen Besetzung 1941 bis 1944 Schlimmstes zu erdulden hatten. Über 8.000 Menschen kamen bei Kämpfen oder bei Massakern zu Tode, ganze Ortschaften wurden geplündert und gebrandschatzt. Auch für die Lösung der „Judenfrage“ hatte die Wehrmacht gesorgt: Am 21. Mai 1944 umstellten Einheiten unter dem Befehl des deutschen Kommandanten der „Festung Kreta“, General Bruno Bräuer, das jüdische Viertel der Stadt Chania, Flüchtende wurden erschossen, alle anderen deportiert –das Schiff ging unter, nur vier jüdische Einwohner aus Chania überlebten.
Und doch gab es Beispiele einer Solidarität mit der kretischen Bevölkerung, die von dieser dankbar aufgenommen wurde. Der Schriftsteller Erhart Kästner, Bibliothekar und Sekretär bei Gerhart Hauptmann, durchquerte als deutscher Besatzer auf einem Esel die Insel und hielt seine Eindrücke in einem Kreta-Buch (1946) fest. Der klassische Archäologe Roland Hampe, der an der Grabung in Olympia teilgenommen hatte, blieb während der deutschen Besatzungszeit als Dolmetscher der Wehrmacht in Griechenland. Er engagierte sich für den Kunstschutz und trug konspirativ zur Rettung Athens im Oktober 1944 bei. Kaum bekannt ist dagegen das Wirken des Malers Rudo Schwarz, der als Soldat der Wehrmacht 1943/44 Kreta erkundete und seine Erlebnisse in Fotografien, Skizzen, Zeichnungen und einem Tagebuch festhielt. Vom Krieg ist hier so gut wie gar nicht die Rede, Schwarz wollte die Menschen, die Städte und Dörfer, die Landschaft, die einzigartigen Kulturzeugen der Vergangenheit sprechen lassen. Er war Künstler, Ethnologe, Kulturhistoriker und Archäologe in einer Person. Es gelang ihm, diese eindrucksvollen Zeugnisse während des einzigen Fronturlaubs seines ganzen Wehrdienstes nach Deutschland mitzunehmen, bevor er 1945 in Jugoslawien in Kriegsgefangenschaft geriet. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Weinheim an der Bergstraße zurück, wo er weiter als Maler der Städte und Landschaften Baden-Württembergs tätig war. Doch seine Kreta-Impressionen hielt er in seinem Archiv zurück. Seine Söhne berichteten: „Nach seiner Gefangenschaft hat unser Vater nicht viel über diese Zeit geredet. Er hat uns nur hier und da Geschichten erzählt. Er hatte während seiner gesamten Dienstzeit den niedrigen Grad des Obergefreiten. Er war kein Mann des Krieges. Er hat während seines ganzen Wehrdienstes keinen einzigen Schuss abgegeben. Er war hingegen ein bedeutender Zeichner und hat viele Portraits seiner Obersten und Offiziere gemalt. Eitle Menschen, die ihn von einem zum anderen schickten. Dies gab unserem Vater die Gelegenheit, Kreta, das er geliebt hat, zu erkunden.“ 1982 starb Schwarz im Alter von 76 Jahren. Seine Söhne haben sein Kreta-Archiv der Gesellschaft für Kretische Historische Studien gestiftet und im Historischen Museum in Heraklion ist es nun zum ersten Mal umfassend der Öffentlichkeit – mit einem Katalog auch in deutscher Sprache – vorgestellt worden. Auch die Veröffentlichung der illustrierten Kreta-Tagebücher soll folgen.
Schwarz fuhr während seiner 14monatigen Stationierung vom Januar 1943 bis März 1944 in Kreta vom Hafen Souda bis Rethimno, das noch vieles aus seiner mehr als zwei Jahrhunderte währenden türkischen Vergangenheit bewahrt hat, nach Heraklion mit seinen steinernen Zeugen der venezianischen Herrschaft und schließlich zu der wie ein Amphitheater um einen runden Quellsee erbauten Kleinstadt Agios Nikolaos am Golf von Mirabellou. Er besuchte die Dörfer und archäologischen Stätten in Messara, die Provinz Malevision und den Osten Kretas und gab mit seinen Zeichnungen und Fotografien das Bild von Kreta in der Besatzungszeit wieder. Ohne irgendeine Feindseligkeit, offen und bereitwillig standen ihm die Einwohner Modell, auch wenn die zerstörten Häuser – etwa in Heraklion – den Hintergrund bilden. Er stellte Kirchen, Klöster und Moscheen, minoische Paläste und venezianische Denkmäler vor, skizzierte Ansichten von römischen Gräbern, bearbeitete kunstvoll Repliken antiker Gegenstände, auch die Fresken von Knossos, dem Zentrum der 5.000 Jahre alten minoischen Kultur. Er interessierte sich ebenso für die Volksarchitektur, die Gebrauchs- und Hausgegenstände, die Szenen aus dem täglichen Leben, gab die Schönheit der Landschaft und Kulturstätten wieder, benannte akribisch Blumen und Pflanzen, stellte die uralten Olivenbäume in der Messara-Ebene dar. Tagebuchnotizen begleiten die Bilder und Fotografien, etwa die von der Fahrt von Rethimno nach Messara am 31. Januar 1943: „Die Fahrt war einfach herrlich. Hohe schneebedeckte Berge, die im Sonnenlicht gleißten, steile Hänge, an denen die Fahrstraße in zahllosen Serpentinen entlangführt. Die Fahrt geht rauf und runter, über Bergpässe durch Ortschaften, fruchtbare Täler, an Zedern, Zypressen, Olivenbäumen vorbei, bis wir wieder in der Ferne das Meer erglänzen sehen und im Dunst die Insel Paximadi. Ein Bild ist mir besonders in der Erinnerung geblieben: ein mächtiger Feigenkaktus und ein blühender Mandelbaum nebeneinander vor  einem alten, verfallenen Gebäude und dahinter die schneebedeckten Gipfel der hohen Berge. Der Vordergrund im grellen Sonnenlicht, die Ferne im Wolkenschatten in dunklen Farben.“ Das ist das andere Kreta, das selbstbewusste Kreta, für das fremde Herren, fremde Religionen viele Jahrhunderte zum Alltag gehörten. Eine Welt, in der die Trauer regiert, aber auch der Stolz, bisher allen Besatzungen und Drangsalierungen getrotzt und Widerstand geleistet zu haben.
Schwarz’ Malweise wird gespeist von impressiven wie expressiven Elementen, sie lässt die flirrende Hitze auf dem Lande ebenso spürbar werden wie die unnahbare Majestät der schneebedeckten Berggipfel oder das unendliche Blau des Meeres. Zu allem und jedem gibt es auf Kreta eine Geschichte und so erzählen auch die Zeichnungen und Fotografien von Schwarz ihre eigenen Geschichten. In den Augen und unter den Händen des Künstlers verschmolzen Farbe, Bewegung und Licht in eins. Ohne den kontrollierten Pulsschlag der Erregung, ohne diesen rhythmischen Herzschlag würden den Arbeiten gerade diejenigen Eigenschaften fehlen, durch die sie uns anrühren. Von der Beschäftigung mit der greifbaren Realität der Landschaft bewegte sich Schwarz hin zum Interesse an einer nicht greifbaren, dem Licht. Wie durchsichtige Schleier beginnen die Farben zu schweben. Der Künstler hat sich ganz auf die Inspiration des Augenblicks verlassen, hielt vor Ort seine ersten Eindrücke mit Bleistift, Tinte, Kreide, Gouache-, Pastell- und/oder Aquarellfarben fest. Es sind Notizen, Gedächtnisstützen, Ansichten, in denen sich Licht als Malerei, als Farbe materialisiert.
Rudo Schwarz’ Kreta-Impressionen sind nicht nur ein künstlerisches Ereignis, sie sind beeindruckende Dokumente der Verständigung, der Achtung des anderen, des friedlichen Miteinanders, der Rückbesinnung auf eine gemeinsame, uns verbindende Kultur.

Anm. d. Red.: Eindrucksvolle Einblicke in die Vorgänge während der deutschen Besetzung Kretas im 2. Weltkrieg geben folgende belletristischen Titel – James Aldridge, Der Seeadler, Verlag Steinberg 1945, und Egon Günther, Der Kretische Krieg, Mitteldeutscher Verlag, 1957.