13. Jahrgang | Nummer 20 | 11. Oktober 2010

Klinger zwischen Genius und Grazie

von Kai Agthe

Die Retrospektive mit Werken von Max Klinger (1857-1920) im Kunsthaus Apolda ist die erste Ausstellung mit Werken des Künstlers in Thüringen seit mehr als 100 Jahren. Gezeigt werden in der Schau 90 Werke aus der Klinger-Sammlung des Südtiroler Architekten Dr. Siegfried Unterberger (Meran), die der Sammler in nur 15 Jahren zusammengetragen hat, sowie Leihgaben aus verschiedenen mitteldeutschen Museen von Altenburg bis Zwickau.
„Max Klinger war in seiner Zeit ein Superstar wie heute Neo Rauch“, so fasste Kurator Dr. Hans-Dieter Mück die Bedeutung Klingers für die Zeit um 1900 zusammen. Der in Leipzig geborene und in Großjena bei Naumburg gestorbene Künstler war, so Mück, „ein hervorragender Zeichner, Radierer und Bildhauer, die Malerei aber nie seine Stärke“. Das wird durch die in Apolda getroffene Auswahl der Klingerschen Arbeiten deutlich. In sieben Themenbereiche geordnet, dominieren Handzeichnungen, Radierungen und plastische Werke.
Das malerische Œuvre Klingers ist, wie der Kurator andeutete, von ambivalenter Qualität. Das Ölbild „Porträt eines alten Mannes“, ein Frühwerk des 20-jährigen Künstlers, mag durch die Rembrandtsche Farb- und Lichtwahl ein epigonales Gemälde sein, überzeugt aber sowohl in der handwerklichen Ausführung als auch in der psychologischen Durchdringung der Figur. Das fast vier Jahrzehnte später entstandene Bild „Drei Frauen im Weinberg in Großjena“ (1911/12) ist ein im impressionistischen Duktus gehaltener Tagtraum. Auf dem wegen seiner schieren Größe in einem flächigem Farbauftrag gehaltenen Gemälde sind drei Frauen vereint, die sich nie trafen, aber in Klingers Leben als Musen und Geliebte eine Rolle spielten: die Schriftstellerin Elsa Asenijeff, Cornelia Wagner als Geigen- und die T. als Lautenspielerin. Von letzterer ist neben dem Namenskürzel nur bekannt, dass sie Kubanerin war. Zeitgleich entstand ein in Mischtechnik ausgeführtes suggestives „Porträt Gertrud Bock mit entblößter Brust“, das Klingers letzte Muse zeigt, die er 1919, ein Jahr vor seinem Tod, geheiratet hat.
Von ganz eigenem Reiz sind die fragmentarischen Arbeiten Klingers. Hier überrascht das in Pastellkreide ausgeführte „Doppelbildnis: Junge Frau und Otto Greiner“ (1906) ebenso wie das Blatt „Weibliche Halbfigur mit verschränkten Armen (5. Muse)“ (Mischtechnik, 1912). Das verbindende künstlerische Element, das sich wie ein roter Faden durch alle Räume und Themen zieht, sind die Exlibris-Radierungen. In dieser Gattung war Klinger ein Meister.
Die Bildhauerei erlernte er als Autodidakt. Umso erstaunlicher ist, was ihm auf diesem Gebiet gelang. Denn mit der Plastik verbindet sich des Künstlers Vorstellung vom Gesamtkunstwerk. Exemplarisch wird das in seinem Leipziger Beethoven-Denkmal deutlich. Stellvertretend für diese polylithe, also aus mehrfarbigem Stein, gefügte, manieristische Komposition ist in Apolda eine verkleinerte Bronze-Fassung des sitzend-sinnenden Beethovens zu sehen. Die ist, kurios genug, ästhetisch überzeugender als das Gesamtwerk in Leipzig. Flankiert wird der Beethoven-Torso von einer Gipsversion der Nietzsche-Hermenbüste, die Harry Graf Kessler 1903 bei Klinger in Auftrag gab, sowie einer Bronzebüste des jungen Richard Strauss (1910).
Erstmals zu sehen sind erotische Bleistiftzeichnungen aus dem Spätwerk Klingers, die er mit schnellem Strich aufs Papier brachte. In ihrer Freizügigkeit erinnern sie an jene Skizzen Auguste Rodins, die 1906 in Weimar einen Skandal auslösten. Wohl wissend um die Anstößigkeit der Darstellung, hielt Klinger seine zwischen 1910 und 1919 entstandenen Blätter, die Mann und Frau sowie zwei Frauen beim Liebesspiel zeigen, unter Verschluss.
In einem Katalogbeitrag skizziert Siegfried Unterberger, wie er das im Verfall begriffene Elternhaus Klingers in Leipzig-Plagwitz 2004 erwarb und, im Kampf mit den Behörden, von Grund auf sanieren ließ. Er bot der Stadtverwaltung an, das Haus als Ort für kulturelle Veranstaltungen zu nutzen. Doch da man im Leipziger Rathaus in sechs Jahren keine Idee für eine adäquate Verwendung hatte, verkaufte Unterberger die Klinger-Villa Mitte 2010 entnervt. So, wie sich die Geschichte um das Anwesen aus der Sicht des einstigen Besitzers darstellt, ist sie ein Armutszeugnis für die Stadt Leipzig und ihr kulturelles Selbstverständnis.
Die Apoldaer Schau ist nicht nur die erste Ausstellung mit Klinger-Werken in Thüringen seit über einhundert Jahren, sondern auch werkgeschichtlich stimmig, da sie durch kluge Exponat-Auswahl von der beeindruckenden Vielseitigkeit und Meisterschaft dieses Künstlers kündet.
Im Anschluss wird sie in der Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg zu sehen sein. Und in Apolda darf man sich schon jetzt auf eine Retrospektive mit Fotografien Helmut Newtons freuen, zu der das Kunsthaus Avantgarde vom 9. Januar bis 27. März 2011 einlädt.

Max Klinger – Von der herben Zartheit schöner Formen. Bis 19. Dezember im Kunsthaus Apolda Avantgarde. Der Katalog kostet 19 Euro.