13. Jahrgang | Nummer 18 | 13. September 2010

Ein Grenzgänger: Alfred Meusel

von Mario Keßler

Zum Grenzgänger der Wissenschaften – zwischen Soziologie und Geschichte – wurde er aus eigenem Entschluss, zum Leben jenseits der deutschen Grenzen zwangen ihn die Nazis. An ihn sei aus Anlass der Wiederkehr seines 50. Todestages am 10. September erinnert – an Alfred Meusel (1896-1960). Er, der aus der frühen Geschichte der DDR nicht wegzudenken ist, war Sohn eines Kieler Studienrats und Titularprofessors und wurde durch die Schrecknisse des Ersten Weltkrieges zum Sozialisten. Nach einer Kriegsverwundung demobilisiert, erlebte er die Novemberrevolution 1918 an ihren Ursprüngen in seiner Heimatstadt. Danach schloss er sich der USPD an und wurde 1922 SPD-Mitglied.

In Kiel und Hamburg studierte Meusel Volkswirtschaft und das damals noch junge Fach Soziologie. Seine Dissertation behandelte 1922 „Untersuchungen über das Erkenntnisobjekt bei Marx” und erschien 1925 als Buch. Darin sah Meusel den Marxschen Kapitalbegriff als sozialen Beziehungsbegriff, doch sei der Marxismus nur vor dem Hintergrund einer allgemeinen geistig-kulturellen Situation und nicht allein aus ökonomischen Konstellationen heraus zu analysieren. Meusel war einer der ersten, der vor dem Aufkommen einer Staats- und Parteibürokratie als neuer Klasse in der Sowjetunion warnte. Sein nächstes Buch über „Marx und List”, das 1928 erschien, behandelte unter anderem den Gegensatz zwischen dem sowjetischen und dem europäisch-sozialistischen Marxismus.

Im Unterschied zur Historikerzunft bot die Soziologie in der Weimarer Republik linken Gelehrten einige Entfaltungsmöglichkeiten. So wurde Meusel 1930 auf einen Lehrstuhl an die Technische Hochschule in Aachen berufen, von dem er 1933 vertrieben wurde. Nach kurzer Haft gelangte er mit seiner Frau über Dänemark ins englische Exil. Dort schloss sich Meusel 1937 der KPD an. Dennoch sind auch die seitdem erschienenen Schriften frei vom agitatorischen Parteijargon. Meusel suchte vielmehr seine in der Soziologie gewonnenen Kenntnisse in historische Darstellungen zu übertragen. Die sozialgeschichtliche Interpretation, nicht die quellengestützte Detailforschung, wurde seine Stärke. Seine noch im Exil entstandenen Arbeiten zu Hitlers Außenpolitik, zur Haltung der deutschen Intelligenz gegenüber der politischen Macht sowie später zur englischen Revolution von 1640 und zur deutschen Revolution 1848/49 legten besonderes Gewicht auf das Verhältnis von sozialem Kollektivbewusstsein und den Mechanismen politischer Machtausübung in Staatskrisen. Meusel war Mitbegründer und einer der Vorsitzenden der Freien Deutschen Hochschule, einer linken, doch überparteilichen Bildungsanstalt des deutschen Exils, die auch Brücken zur britischen Intelligenz bauen konnte.

1946 kehrte er zurück. Als einer der ganz wenigen marxistischen Emigranten hatte er einen Ruf auf einen soziologischen Lehrstuhl erhalten, an die TH Charlottenburg. Er schlug diesen zugunsten einer Professur für politische und soziale Probleme der Gegenwart an der Berliner Universität aus. 1947 wurde er dort auf den Lehrstuhl für Neuere Geschichte berufen, 1952 wechselte er auf den Direktorenposten des Museums für Deutsche Geschichte. In der Universität und am Museum suchte er ein auf dem historischen Materialismus basierendes Geschichtsbild zu vermitteln, das eine Abkehr vom machtzentrierten Historismus bedeutete. Konsequenterweise wandte er sich gegen Bestrebungen einer Hanna Wolf, die Direktorin der Parteihochschule, die Geschichtswissenschaft und Propaganda in eins setzen wollte. Mehr als beinahe jeder andere hochrangige Historiker der frühen DDR hielt Meusel an der ideellen Einheit der deutschen Wissenschaft in Zeiten institutioneller Spaltung fest. Er starb kurz bevor die Errichtung der Berliner Mauer eine solche Einheit für lange Zeit von der Tagesordnung der Politik strich.