13. Jahrgang | Nummer 17 | 30. August 2010

Von der Relativität eines Malheurs

von Margit van Ham

Wenn man ein Malheur erlebt, wünscht man sein ICH in der Regel weit weg vom Geschehen. Ich hatte so ein Schlüsselerlebnis und mich mindestens auf den Mond gewünscht. Meine Freundinnen trösteten mich mit Geschichten, die mir die breite Streuung des Mißgeschicks allein im Themenbereich Schlüssel deutlich machten. Ich denke, es müßte eine Malheurskala von 1 bis 10 eingeführt werden. Da kann man sich dann beruhigen und sich sagen, ok war ja nur bei 1,87 der Skala, und dann langsam anfangen, darüber zu lachen.

Ich hatte am Morgen nach dem Umzug in eine neue Wohnung noch im Halbschlaf meine Arbeitssachen übergeworfen und Kaffeewasser aufgesetzt. Dann kramte ich einen Schlüssel aus meiner Tasche, um die Zeitung zu holen. Per Kaffee und Zeitunglesen wollte ich mich langsam für die Anforderungen der sich stapelnden Umzugskisten rüsten. Am Briefkasten paßte der Schlüssel nicht. Die Erkenntnis, daß ich den Schlüssel der alten Wohnung in der Hand hielt, war an der Wohnungstür langsam durchgesickert. Das Handy lag selbstverständlich in der Wohnung.

Ich stürzte die Treppen wieder hinunter, denn im Eingangsbereich hatte ich eine Putzfrau gesehen. Das wichtige war – sie hatte telefoniert. Sie registrierte meine Aufregung, und als sie mir ihr Handy gab, war es nicht hilfreich, daß ich keine Brille bei mir hatte, also die Ziffern darauf nicht erkennen konnte. Ich bat sie zu wählen – und da war es passiert. Mir fiel beim besten Willen die Telefonnummer meines Mannes nicht ein. Mein Kopf war in ein schwarzes Loch verwandelt. Wir versuchten einige Varianten, und ich sah, wie sich das Urteil der Frau, es mit einer verwirrten Person zu tun zu haben, festigte. „Ganz ruhig, ganz ruhig“, sagte sie besorgt und trug damit zu meiner weiteren Beunruhigung bei.

Ich hatte dann immerhin die Idee, den Hausmeister ins Spiel zu bringen. Vielleicht hätte der einen Generalschlüssel. „Nee, aber er könnte den Schlüsseldienst alarmieren“, meinte die Frau. Gesagt, getan – sie informierte den Hausmeister, sprach von einer etwas verwirrten Mieterin, die sich nicht an eine Telefonnummer erinnern könne und hilflos vor der Tür stehe… Der Gute hatte die Telefonnummer meines Mannes und konnte mich erlösen.

Während der nächsten Stunde, die ich nun auf der Vortreppe des Hauses wartete, gelang es mir, die verwunderten bis mitleidigen Blicke der Vorübergehenden zu ignorieren. Ich saß auf den Stufen vor dem Vierstöcker im Berliner Friedrichshain und betrachtete beharrlich die gegenüberliegende Mauer – und ab und an meine abgelatschten Hausschuhe. Meine dünne Bluse schützte nicht vor der Morgenfrische und noch weniger vor dem Gefühl, aus einer einzigen Gedächtnislücke zu bestehen.

Am nächsten Tag hatte ich mich beruhigt und beschlossen, das ganze mit Humor zu nehmen. Ich rief meine Freundin Astrid an und erzählte ihr die Geschichte meines Aussetzers. Astrid kicherte und berichtete dann von Kumpel Kalle, dem es viel ärger ergangen sei, als er sie im kalten Januar besucht hatte. Die Kälte war mit Pflaumenschnaps odentlich bekämpft worden, und Kalle hatte die richtige Bettschwere, als er das Gästebett aufsuchte. Nachts überkam ihn ein Bedürfnis, er stand auf, verließ Astrids Gästezimmer, öffnete im Halbschlaf eine Tür und schloß sie. Als er die Augen richtig aufmachte, fand er sich auf dem Treppenflur. Astrid setzte an dieser Stelle genießerisch hinzu: „ Du mußt wissen, daß Kalle immer ohne alles ins Bett geht. Und ich hatte Oropax im Ohr“.

Schon weitaus fröhlicher erzählte ich nun Karla meine Geschichte, und auch sie hatte etwas zum Thema Schlüssel beizutragen. Der Beginn klang ganz ähnlich, ein Freund zu Besuch, geht eine Treppe tiefer zum damaligen Außenklo. Ich lachte und dachte, ich könne schon die Pointe erzählen. Natürlich war die Tür zu und er nackend. „Nein, nein“, winkte Karla ab, „er hatte schon Schuhe, Strümpfe und einen weißen Feinrippslip an.“ Aber die Tür war in der Tat zu. Ihr Freund war ein etwas exzentrischer Typ, der sich entschloß, trotz seines Mißgeschicks zu Karlas Büro zu laufen, um den Zweitschlüssel zu besorgen. Als er das Haus verließ, sah er Feuer im Hof und er rannte los, um Karla zu warnen. Es war November und er erregte einiges Aufsehen.

Karla hatte nicht viel Zeit, sich über das Aussehen ihres Freundes Gedanken zu machen, als er im Büro auftauchte. „Bei dir brennt es, bei dir brennt es“, rief er keuchend und zerrte sie hinaus. Als sie am Haus ankamen, wimmelte es von Feuerwehr und Polizei und Gaffern, aber das Feuer im Hof war gelöscht. Karla ging erleichtert zu ihrer Wohnung, um die Tür zu öffnen. Sie wunderte sich, wo ihr Freund abblieb. Der aber war inzwischen verhaftet worden. Zeugen hatten gesehen, wie er in Unterhose getürmt war. Seine Erklärung gewann den Polizisten nur ein müdes Grinsen ab.

Ich gebe zu, das Lachen verfliegt bei diesem Grenzfall zwischen Mißgeschick und Drama. Er erhält eine glatte 10 auf meiner Malheurskala. Alle kleineren Malheure sind zum Weglachen bestimmt.