13. Jahrgang | Nummer 13 | 5. Juli 2010

Die Schläger und ich

von Henryk Goldberg

Der ältere, aber leicht erregte Herr stand da und brüllte. Er hielt beide Hände als Lautverstärker an den Mund, er war kein sehr geübter Laut-Sprecher. Er brüllte Tarik! und Tarik, Klasse! und alles so was. Irgendwie wirkte das doch etwas befremdlich, wie ich fand. Der Herr war ich. Eigentlich geht das gar nicht. Eigentlich brüllt ein richtiger Intellektueller nicht, höchstens im Theater, vor Lachen, wenn sie einen Witz machen, den die anderen nicht verstehen. Aber nicht bei so einer Veranstaltung. Ich brülle noch nicht einmal auf der Radrennbahn, obgleich ich die Terminologie Zieh!, Alles! ganz gut beherrsche. Nicht, weil ich Sport-Brüllen blöde fände, eine Sportveranstaltung mit der Räusper-Diskretion des klassischen Konzertes wäre grauenvoll. Aber irgendwie bin ich zu verklemmt zum Brüllen, meistens. Das ist ein bißchen wie Heulen im Kino, aber das passiert von allein, da kann man, außer sich verstohlen die Augen zu wischen, nichts machen. Brüllen muß man aktiv. Ich brauchte auch ein, zwei Minuten ehe ich die innere Hemmung überwunden hatte, um Tarik lautstark anzufeuern. Niemand hat sich wohl gewundert über diese Brüllorgie, außer dem Brüller selbst. Vielleicht, daß es auffiel, weil die anderen Leute, wenn sie brüllten für den anderen brüllten Christian! , der war aus Erfurt und er war zugleich der Manager des Abends. Eigentlich sollte so einer zu Hause gewinnen, aber nicht gegen Tarik.
Tarik hatte mir eine halbe Stunde zuvor gesagt, David gehe es gut, trotz knock down und Würgegriff, und er tat es, als hätten sie ihn auf einer Universität in Psychologie und Sozialkompetenz unterwiesen. Dabei, sein Sensei unterweist ihn in anderen Dingen, der Junge ist Amateur-Vize-Weltmeister im beinahe-ohne-Regeln-Prügeln.
Immerhin, niemand hat mich angepöbelt, weil ich für den falschen Mann brüllte mitten unter den Fans des richtigen. Beim Fußball hätte sich der
Vorgang eher problematisch entwickelt. Aber vielleicht war es gut, daß ich schon zu Hause war, als Pilipp kämpfte, da hätte ich wieder für den falschen gebrüllt. Aber ich war nicht da, und so hat der Richtige gewonnen, der Erfurter. Die Wettbewerbe hießen Kickboxen und MMA, Mixed Martial Arts, und das ist nun eine Veranstaltung von sehr eingeschränkter Sensibilität. Fäuste, Füße, und fast überall hin. Solche Leute können nur primitiv sein, normale Leute machen so was nicht. Solche Leute haben Tätowierungen am Leib und verquere, merkwürdige Gedanken im Kopf.
Vier Wochen zuvor saßen solche Leute bei mir auf der Terasse. Dragon Gym Würzburg. Die einzigen rein Deutschen am Tisch waren der Trainer der Jungs und die Köchin. Und niemand, der die Runde beobachtet hätte, wäre auf den Gedanken verfallen, daß diese vier und ihr Trainer eine Truppe sind, die eine Disco wohl allein ausräumen könnten. Gewiß, Rafael, der Pole hat die klassischen Blumenkohlohren. Einmal, sie haben etwas vergessen, bittet der Trainer ihn, etwas aus dem Auto zu holen. Ich bin der Pole grinst Rafael und geht. Philipp, der Philippino, grinst auch. Ich bin der hier sagt er und verengt seine Augen mit den Zeigefingern zu breiten Schlitzen. Tarik, der türkische Muslim, fragt einmal, ob er sich irgendwo für einige Minuten zurückziehen könne, es ist die Zeit des Gebetes. Und im Übrigen fragt Tarik, ob ich glaube, daß es in zwanzig Jahren noch Zeitungen geben werden, wegen dem Internet. Und David sagt Danke Mutti. Und niemand ist tätowiert.
Das besagt nicht, daß dieser Sport von lauter intellektuellen Feingeister betrieben wird. Aber es besagt etwas darüber, daß man mitunter nur durch Zufall die Chance erhält, einige von seinen Vorurteilen abzubauen. Und vermutlich nicht nur im Sport.