von Klaus Hart, São Paulo
Schon wieder rügt die FIFA, daß Brasilien beim Vorbereiten der Fußball-WM 2014 unglaublich im Rückstand sei, der Neu-und Umbau von Stadien vielerorts nicht einmal begonnen habe. Vielleicht liegt es ja daran, daß die brasilianischen Autoritäten andere Prioritäten setzen, wegen des Landesimage erstmal woanders anfangen, nämlich bei den nervenden Obdachlosen. Ob in Rio de Janeiro oder Lateinamerikas reichster Großstadt São Paulo – überall machen in ganzen Horden die sogenannten „Moradores de Rua“ den Touristen die allerschönsten Knipsmotive kaputt, hauen sich direkt vor Opernhäusern, Kathedralen, Denkmälern und sogar an den Stränden hin, pennen sogar am Tag, während andere arbeiten.
Und auch das noch – dieses Volk stochert an Brasiliens Postkartenansichten in Abfallkübeln herum, reißt die auf den Bürgersteigen abgestellten Müllsäcke auf, durchwühlt sie nach Eßbarem und breitet dabei den ganzen, teils übel stinkenden Inhalt auf den Gehwegen aus. In São Paulo beispielsweise ist das ein gewohnter, wenngleich fürchterlicher Anblick. Man kann es natürlich auch anders sehen. Auf der Straße hausen zu müssen, noch dazu bei Tropentemperaturen, schwächt Körper und Psyche, senkt das Selbstwertgefühl mehr und mehr. Um nachts nicht im Schlaf erschlagen oder lebendig verbrannt zu werden – was oft genug vorkommt – legen sich viele brasilianische Obdachlose an Stellen, wo man sie gut sieht, es Augenzeugen bei Attacken gäbe – also direkt an vielbefahrenen Straßen und Stadtautobahnen. Schon wegen des Krachs und der Abgasschwaden ist dort an richtiges Schlafen nicht zu denken, aber was soll man machen. Während des Tages brechen ungezählte abgehungerte Obdachlose daher vor Schwäche regelrecht zusammen, steigt man teils sogar beim Eintritt in den Dom notgedrungen über sie drüber.
In Brasiliens Großstädten hat die Zahl der „Moradores de Rua“ in den letzten Jahren stark zugenommen – doch derzeit werden sie vor allem aus den Innenstädten gezielt und teils mit brutaler Gewalt in die weit entfernten Slumregionen vertrieben. Die UNO hat dies in einer Note an die brasilianische Regierung kritisiert. Brasiliens Kirche und auch die Obdachlosenverbände nennen als Motiv der Vertreibungen die nahende Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 – der Staat wolle das Landesimage auf solche Weise verbessern. São Paulo, reichste Stadt Lateinamerikas, betreibt die rigideste Vertreibungspolitik. „Die Obdachlosen und wir von der Kirche durchleben derzeit einen sehr schwierigen Moment“, sagt die Soziologin Nina Laurindo, Projektleiterin des Franziskanerklosters von São Paulo. „Weil die Fußball-WM und die Olympischen Spiele vorbereitet werden, ist eine wahre soziale Säuberung im Gange, werden die städtischen Obdachlosenasyle in São Paulos Zentrum geschlossen, sollen die Straßenbewohner an die Slumperipherie. Direkt vor dem Franziskanerkloster werden jetzt die Obdachlosen mit städtischen Wasser-LKW naß gespritzt und verscheucht, nimmt man diesen Menschen die Habseligkeiten weg, sogar Decken und die Ausweise. Alle Schlafplätze für die Nacht werden jetzt in Wasserlachen verwandelt.“
In der Tat ist das Kloster erstmals nicht von Obdachlosen umlagert, werden sie in der City von der Polizei sogar per Schlagstock verjagt. Die großen Tageszeitungen São Paulos sprechen von einer „empörenden Form des Sadismus“ durch die Präfektur. Bürgermeister Gilberto Kassab gehört zu einer Rechtspartei, in der es von früheren Diktaturaktivisten wimmelt. Soziologin Nina Laurindo steht im großen Klostersaal immer nachmittags zwischen mehreren Hundert Obdachlosen, verteilt belegte Brötchen und Tee – und führt politische Diskussionen: „Etwa 15000 Menschen hausen alleine in São Paulos City auf der Straße, 70 Prozent davon könnte man reintegrieren. Denn wer länger obdachlos war, ist meist gesundheitlich angeschlagen, psychisch gestört. Hier im Klostersaal debattieren wir, was da jetzt im Gange ist. Und wir organisieren Proteste gegen eine Politik, die Misere und Armut aufrechterhält, die Probleme dieser Menschen nicht löst. Gelegenheitsarbeiten, Betteln, Tagelöhnerei sind für Obdachlose nur in der belebten Innenstadt möglich – fernab in den Elendsvierteln der Peripherie funktioniert das natürlich nicht.“
Sebastiano Nicomedes war ein Bewohner der Straße. Doch als 2004 in São Paulo nachts 16 schlafende Obdachlose attackiert, acht davon ermordet werden, die anderen schwerverletzt überleben, weitere Obdachlose sogar lebendig verbrannt werden, gründet Nicomedes mit Gleichgesinnten die Nationale Obdachlosenvereinigung, ist einer der Führer. Über das Los der Straßenbewohner schreibt er heute Theaterstücke, die landesweit auf den professionellen Bühnen aufgeführt werden und verfaßt Bücher. “Für mein neuestes Stück bin ich durch ganz Brasilien gereist, habe in Millionenstädten wie Rio de Janeiro, Belo Horizonte, Curitiba und Porto Alegre beobachtet, wie man die Obdachlosen wegen der herannahenden Fußball-WM vertreibt“, sagt er dem Blättchen. „Denn jetzt werden ja ständig FIFA-Delegationen empfangen, will man denen die Austragungsorte so attraktiv wie möglich präsentieren. Bei diesen Säuberungen geht es um das Landesimage und um die Werbung für Investitionen. Unser Staatspräsident müßte den Austragungsstädten die Bedingung stellen, mit den Geldern nicht nur teure Fußballstadien zu bauen, sondern auch die Obdachlosen zu integrieren, sie als Arbeitskräfte für die WM einzusetzen. Nach dem unaufgeklärten Massaker von 2004 wurden auch die Zeugen liquidiert – und wir stellen immer häufiger fest, daß Polizisten als Obdachlose verkleidet sich unter die Straßenbewohner mischen.“
Ordensbruder José Francisco koordiniert sämtliche Sozialprojekte der Franziskaner im Großraum São Paulos: “Daß wir mit Geldern der kirchlichen Hilfswerke Deutschlands die Straßenbewohner gerade jetzt, während der Säuberungen, politisch organisieren, gefällt der Präfektur natürlich garnicht. Brasilien ist die achtgrößte Wirtschaftsmacht, das ist Fakt. Doch für eine echte Sozialpolitik fehlt der Regierung politischer Wille. Nicht einmal das Hungerproblem wurde ja gelöst.“ Dafür nimmt die Zahl der brasilianischen Milliardäre und Millionäre kräftig zu, wie die internationale Wirtschaftsjournaille beklatscht. Ein soziales Netz wie in Mitteleuropa existiert nicht – und in einem Land, in dem die meisten Beschäftigten unregistriert, ohne Vertrag und ohne einklagbare Rechte arbeiten, die meisten Familien teils schier unbeschreiblich zerrüttet sind, stürzt man leicht ab.
Stets morgens um sieben schließt Hedwig Knist aus der Diözese Mainz die Kirche und die Projekträume der Obdachlosengemeinde São Paulos auf – dann drängt ein bunter Haufen hinein, bringt ein Universum von Problemen mit, sucht Antworten, Hilfe, Gemeinschaft und in einem Land tiefer Volksfrömmigkeit natürlich spirituellen Beistand, Gebet. Die couragierte Gemeindereferentin Hedwig Knist widmet sich allen mit enormer Geduld, organisiert sogar berufsbildende Kurse, hat einen Werkstattbetrieb aufgebaut. Zu Morgengebet und Frühstück kommt in die Obdachlosenkirche auch Carlos Mendes, erzählt sofort von seiner Schwester: „Die studierte hier Literatur, kam durch den wissenschaftlichen Austausch nach München und will jetzt nie wieder nach Brasilien zurück. Die sagt, dort in Deutschland sind die Leute solidarischer, organisierter, respektieren sich mehr als hier – das gefällt ihr bei den Deutschen am besten. Ich hatte einen Arbeitsunfall, habe mir den Oberschenkel gebrochen, wurde sofort entlassen, lebe seit neun Monaten auf der Straße, habe Schmerzen beim Gehen. Es gibt in solchem Falle ja keine Hilfe der Gesellschaft.“
Säuberungsaktionen wie derzeit sind in Brasilien nichts Neues. 2009 kam ein Spielfilm mit großen brasilianischen Schauspielern in die Kinos, der authentisch nachzeichnete, wie 1960 vor dem Besuch von Königin Elizabeth in Rio de Janeiro Obdachlose und Bettler systematisch ermordet wurden.
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