13. Jahrgang | Nummer 6 | 29. März 2010

Laudatio für Rudolf Sittner

von Günther Drommer

Am Oberlauf des Orinoko leben die Yekuana-Indianer. Aus ihrem Schöpfungsmythos »Watunna« zitiert Eduardo Galeano in seiner Trilogie »Erinnerung an das Feuer«: »Frau und Mann träumten, in Gottes Traum käme ein großes schimmerndes Ei vor. In dem Ei sängen sie und tanzten sie und machten viel Aufruhr, so versessen waren sie darauf, geboren zu werden. Sie träumten, in Gottes Traum sei die Freude stärker als Zweifel und Geheimnisse, und Gott erschaffe sie im Traum und sänge: ›Ich schlage dieses Ei auf, und es wird die Frau und es wird der Mann geboren. Und zusammen werden sie leben und sterben. Und sie werden neu geboren. Und nach ihrer Wiedergeburt werden sie von neuem sterben und von neuem geboren werden. Und immer wieder kommt es zu ihrer Wiedergeburt, denn der Tod ist eine Lüge.‹«

Präsident Chávez hat Galeanos Buch seinem nördlichen Kollegen Obama zum Geschenk gemacht. Auf daß dieser schwarze Mann erkenne, mit wem zusammen er und seine in gewaltiger Zahl ursprünglich fremdgeborenen schwarzen und weißen Landsleute auf diesem Doppelkontinent leben.

Die einst aus Europa gekommenen selbstgefälligen und gewalttätigen weißen Fremden brachten ihren eigenen Schöpfungsmythos mit, in dem ein einziger Gott als Herr ohne Erbarmen über alle Menschen beschrieben wird. Dieser Mythos rottete einst jeden Gedanken, wenn er von der ungeteilten Herrschaft dieses einen Gottes nur ein Stück weit wegführte, mit Feuer und Schwert aus, und er tritt ihm auch heute noch mit plumper Demagogie entgegen. Es ist eine Religion der Strafen und der Macht einer die Welt seit zwei Jahrtausenden beherrschenden zügellosen Oberschicht. In die Pyramide dieser, auch unserer Gesellschaft ist wie ein Skelett die Pyramide der Religion hineingebaut.

Wenn die Yekuana-Indianer und ihre Schwestern und Brüder jener Hunderte von indigenen Völker und Stämmen Amerikas – von den Irokesen in Kanada bis zu den Maputche im Süden Chiles – von diesen Sünden wüßten, und sie wissen davon: wie werden sie sich angesichts dieses frevelhaften Treibens ekeln!

Unsere Liebe zu Chile beginnt mit der Unidad Popular des Salvador Allende. 1973, zu den für meine Generation unvergeßlichen Festspielen der Weltjugend in Berlin, war Saigon frei, Santiago am Beginn eines friedlichen Weges zum Sozialismus, und die DDR so sehr bei sich selbst wie nie zuvor und nie mehr danach.

Fidel Castros milder Bruder bezahlte seinen guten Willen noch im Jahr 1973 mit dem Leben. Heute steht Allendes Denkmal etwas seitlich hinter der wieder herausgeputzten Moneda, auf dem Weg dorthin geht man an jenem Seiteneingang vorbei, aus dem sie den toten Präsidenten damals herausgeschleppt haben.

In der Moneda hat gerade, frei gewählt, ein konservativer Präsident, ein Typ zwischen Silvio Berlusconi und Guido Westerwelle zu regieren begonnen. Dessen einzige Wahllosung, in den vergangenen Januartagen an jedem Laternenmast zu lesen, lautete: Für eine neue Art des Regierens! Den einfältigen Spruch hat sich der schlaue Fuchs mit der Überzeugungskraft eines Fernseh-Entertainers ausgedacht, dem ja tatsächlich der größere Teil des chilenischen Fernsehens gehört. Sein Privatvermögen wird auf zwei runde Milliarden US-Dollar geschätzt. Er hat etwas mehr als die Hälfte des Volkes auf seine Seite gezogen, das hat von all dem christlich-pseudosozialistisch-sozialdemokratischen Herumlavieren der jüngst vergangenen Jahre genug. Wenn Eduardo Frei in Santiago das Wasser privatisiert hat, dann wählen ihn viele nicht und entscheiden sich eben für diesen Piñera, nicht bedenkend, daß der noch viel mehr staatliches Eigentum privatisieren wird.

Immer muß sich ein Volk, ein armes zumal, als erstes um seinen alltäglichen Lebensunterhalt kümmern, entweder, daß es auch morgen etwas zu essen hat, oder, inzwischen mit fast gleicher Dringlichkeit, daß es sich spätestens im nächsten Jahr ein neues Auto kaufen kann. Das Volk erfährt aus der Zeitung nichts über seine Lage, wohl aber liest es jeden Tag, hier wie dort, daß Allende angeblich Kommunist war, Corea viel redet und wenig tut, Morales Chile von Norden her überfallen will und Chávez sowieso ein neuer Stalin ist – und glaubt es am Ende. Die Kinder spielen mit schrecklich degenerierten Barbie-Puppen, die Jugendlichen daddeln sich an Killerspielen müde, das Fernsehen ist von nichts anderem als rosafarbenen Tele-Novelas und düsteren Schlag-zu-Krimis »Made in USA« beherrscht – eine kulturelle Konterrevolution.

Rudolf Sittner, am 15. Mai 1944 in Köslin geboren, ist in der DDR aufgewachsen. Ursprünglich war er Gebrauchsgrafiker und hat gelernt, mit kräftigen farbigen Linien umzugehen, geraden und schön geschwungenen. Seit 1979 lebt er als freischaffender Maler und Grafiker in Cottbus. Seine Malerei liebt starke Farben mehr als Schattierungen und Pastelltöne. Natürlich verschwimmen auch auf seinen chilenischen Bildern die blauen Andengipfel in den helleren Farben der größeren Ferne.

Die Farben in Chile sind so: die Sonne strahlt gelb, die Atacama-Wüste ist von kräftigem Grau oder salzigem Weiß, das Wasser der Seen schimmert dunkelblau. In ihm spiegelt sich der tiefe Himmel, in den hinein können die astronomischen Geräte jede Nacht zurückschauen fast bis zum Urknall. Die Vulkane in viertausend Metern Höhe sind grün, und sie tragen weiße Mützen, wie auch die Seeufer dort oben von breiten weißen Salzstreifen umgeben sind. Das kilometertiefe Chuquicamata-Kupfer-Loch ist hellgrau und das Valle de la Luna am Abend von kraftvollem Rot übergossen.

Wie die Wolken Abbilder von Menschen und Tieren sind, so sind auch die Felsen gefangene Männer und die Wiesen schlafende Frauen und die Gipfelketten der Kordillere ruhende Helden, die ihren Blick sehnsuchtsvoll in den Himmel richten. Gefesselte Menschen oder uralte Götter als Teil der Natur und nicht als ihre Herren. Die Urmutter all dieser Gestalten heißt im alten vorklassischen Griechenland Gaia und in Lateinamerika Pachamama. So war vor langer Zeit ein Urglaube über die ganze Welt verbreitet und keine Ursache für rechthaberisch blutigen Streit.

Sittners Malerei wirkt nie plakativ, die Flächen sind in geheimnisvolle Ornamente zerlegt, plötzlich enthüllen sich überraschende Vexierbilder. Mitten im Berg öffnet sich ein Durchblick zum Ozean, der für Tausende von Kilometern aus nichts besteht als Wasser, keine Insel in ihm.

Auf einem Bild ragt die Stadt, errichtet aus verschränkten Balken, aus dem unendlichen Meer und alles ruht auf den Schultern eines in dieses Gebälk hinein Gekreuzigten aus Fleisch und Holz: die Hütten, die Häuser, die Paläste mit ihren goldschimmernden Kuppeln. Ein mittelalterliches Motiv. Was wird geschehen mit diesem von unten her grobschlächtigen und dennoch zerbrechlichen Bau, dann, wenn die Riesenwelle kommt? Noch ist sie nirgendwo zu sehen auf der spiegelglatten See, aber ihre Ankunft ist gewiß.

Der Bug eines bunten Kreuzfahrtschiffes taucht hinter der patagonischen Felswand auf. Die Bordwand überragt den Leuchtturm, der Kapitän kann ihn nicht sehen, schon steuert er sein stolzes Schiff direkt auf die Felsen zu.

Ein Riesenmann steht, wie einst der Koloß von Rhodos, mit beiden Beinen auf den Dächern zweier moderner städtischer Paläste, eine Bank der eine, die Verwaltung einer Erzmine der andere – achtzehn Minen in Chile sind privatisiert, nur eine, Codelco, ist im realen Chile wahrscheinlich noch für kürzere Zeit in staatlicher Verwaltung. Die Hose des Riesen aus feinem Nadelstreifen, links ein Gentleman-Schuh, rechts der Bocksfuchs des Leibhaftigen. Der Mann pinkelt Geldstücke in die giftig-bunte Welt aus Menschen und Geistern, Autobahnen, Treppen und Häusern, überwuchert von wilder, vielleicht schon längst zerstörter Natur.

Sittner liebt die Dichter Pablo Neruda und Gabriela Mistral, deren Gesichter hat er aus Wörtern geschaffen, denn allein durch ihr Wortwerk bleiben die Dichter auf Erden für immer lebendig. »Wir sind das reine Silber der Erde / des Menschen wahrhaftes Erz, / wir verkörpern das Meer, das währende: / die Feste der Hoffnung: / eine Minute Dunkel macht uns nicht blind: / wir werden in keiner Agonie hinsterben.« – Pablo Neruda, der wahre Kommunist, den kein wirklicher Mensch zu fürchten hat – presente.

Ich stelle mir vor: Alle Maler der Welt, die mit ihren eigenen Augen sehen, mit ihrem Kopf denken und mit ihrem Herzen fühlen, fahren rund um die Erde und erkennen dort das andere Land und ihr Land und sich selbst für sich und uns alle. Unzählige Bilder einer Weltkultur der Zukunft von empfindsamen und nachdenklichen Malerinnen und Malern für ebensolche Betrachter. In allen sind die leidenschaftliche Kraft der Landschaften und der in ihnen wohnenden Menschen zu spüren. Immer neu und immer gleich, so wie das Leben selbst.

Plötzlich ist in unseren Köpfen für all den blödsinnig kitschigen Kram dieser sterbenden Epoche kein Platz mehr. Auf den Grund des Ozeans mit ihm, und die falsche Musik und die falschen Worte einer falschen Literatur des Untergangs dazu. Laßt uns statt dessen die Cueca tanzen und Don Pablos Worte singen.

Am Ende seiner »Erinnerungen an das Feuer« schreibt Galeano: »Der Baum des Lebens weiß, daß die heiße Musik, die um ihn kreist, nie aufhören wird, geschehe was wolle. Soviel Tod auch kommen mag, soviel Blut auch fließen mag, die Frauen und Männer werden doch von der Musik getanzt werden, solange sie von der Luft geatmet und von der Erde gepflügt und geliebt werden.«

Geht in die Ausstellung und seht euch Rudolf Sittners Bilder an! Ihr findet sie bis zum 9. April in der jW-Ladengalerie, Torstraße 6, in Berlin.