13. Jahrgang | Nummer 2 | 1. Februar 2010

Deutschtum oder Bärenhäuterei

von Ehrhard Bahr, Los Angeles

Deutschprachige Exilschriftsteller in Los Angeles zur Judenfrage –
in seiner mehrbändigen Geschichte Kaliforniens mit dem Titel „Americans and the California Dream” hat der amerikanische Historiker Kevin Starr in dem Band über den zweiten Weltkrieg zwei Kapitel den deutschsprachigen Exilschrifstellern in Los Angeles gewidmet. Es handelte sich um eine Gruppe von dreißig bis vierzig namhaften Schriftsteller und Drehbuchautorenautoren, die zu den rund zehntausend Hitlerflüchtlingen gehörten, die in den dreißiger und vierziger Jahren in Südkalifornien Zuflucht fanden. Rund 80 Prozent von ihnen waren jüdisch, 13 Prozent protestantisch und 7 Prozent katholisch.
Die jüdischen Flüchtlinge fanden einen Zusammenhalt im „Jewish Club of 1933” und bildeten an der Westküste die Leserschaft der New Yorker Zeitung „Aufbau”. Kevin Starr hat in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Verhältnis von Christen und Juden gestellt, die sich im Exil in Los Angeles zusammengefunden hatten. Wie könnte eine deutsch-jüdische Kultur weiterbestehen, habe Lion Feuchtwanger gefragt. Was für dämonische Triebe lauerten in dem faustischen Zentrum der deutschen Seele, habe Thomas Mann gefragt. Und wie könnten Christen und Juden nach Auschwitz wieder zueinanderfinden, habe Franz Werfel gefragt.
Merkwürdigerweise hat Kevin Starr keine Quellenangaben für diese Fragen vorgelegt, auf jeden Fall nicht für Werfel und Feuchtwanger. Für Thomas Mann war die Frage leicht zu beantworten, da sie nicht nur im Zentrum seines „Doktor Faustus“, sondern 1945 auch im Zentrum seiner Rede über „Deutschland und die Deutschen” stand. Er sprach damals davon, daß “Deutschland buchstäblich der Teufel holt“.
Ein Grund dafür, daß es keine expliziten Antworten von Feuchtwanger und Werfel gibt, ist wahrscheinlich die Tatsache, daß die Exilschriftstellter sich nicht als Juden oder als Christen identifizierten. Falls sie in Opposition zueinander standen, gab es dafür andere Gründe. Alfred Döblin hegte einen nahezu pathologischen Haß auf Thomas Mann, womöglich aus Neid auf dessen Nobelpreis. Bertolt Brecht verachtete Mann wegen seiner politisch konservativen Einstellung und fühlte sich in seinen irreligiösen Gefühlen von Döblins Bekehrung zum Katholizismus verletzt. Und Arnold Schönberg stritt sich mit Thomas Mann um die unerlaubte Verwendung seines geistigen Eigentums, nämlich der Zwölftonmusik, im „Doktor Faustus“.
Doch im übrigen bestand eine berufliche Solidarität unter den deutschsprachigen Exilschriftstellern, die Unterschiede in der religiösen und kulturellen Herkunft überbrückte. Ein Beispiel dafür ist Thomas Manns Leserbrief an die “Neue Zürcher Zeitung” vom 3. Februar 1936, in dem er gegen einen Artikel des Literaturkritikers Eduard Korrodi protestierte, der behauptet hatte, daß nur einige jüdische Romanautoren Deutschland verlassen hätten, während die Mehrheit der deutschen Lyriker und Dramatiker in Deutschland geblieben sei. Mann berichtigte diesen offensichtlichen Fehler und führte die Namen von fünfzehn nicht-jüdischen Lyrikern und Dramatikern auf, die ins Exil gegangen waren. Mann zählte die Komponente des Jüdischen zum wesentlichen Bestandteil der deutschen Literatur, ohne sie “wäre Deutschtum nicht Deutschtum, sondern eine weltunbrauchbare Bärenhäuterei“. Dieser Leserbrief hatte Thomas Manns Ausbürgerung im Dezember 1936 zur Folge, doch der Schriftsteller hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen tschechischen Paß erhalten.
Juden und Christen unter den Exilschriftstellern brauchten nach 1945 nicht erneut zusammenzufinden. Als Berufsautoren und als Zeugen des Völkermords an den Juden in Europa bildeten sie eine gemeinsame Front. Um 1940 war es offensichtlich geworden, daß der Antisemitismus zum Zentralprogramm der Nazipolitik gehörte, und daß die Nazi-Regierung dieses Programm ohne Rücksicht auf die internationale Kritik durchführen würde. Bei der Diskussion der europäischen Krise konnte man sich nicht mehr auf den militärischen Eroberungskrieg beschränken, sondern mußte sich auch mit dem Völkermord an den europäischen Juden befassen. Manche der Exilschriftsteller, wie zum Beispiel Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann und Franz Werfel, konnten sich nur im letzten Augenblick aus dem besetzten Frankreich retten. Zahlreiche Nachrichten von Selbstmord oder Auslieferung durch die Vichy-Regierung und Deportation nach Osteuropa drangen durch. Die tragische Geschichte von Walter Benjamins Selbstmord an der französisch-spanischen Grenze erschütterte seine Freunde und Bekannten.
Das Problem, das Kevin Starr aufgeworfen hatte, war eine Neuauflage der Diskussion zur Judenfrage, wie sie zum ersten Mal von Bruno Bauer und Karl Marx 1843/1844 formuliert worden war, diesmal unter den Bedingungen von 1933 bis 1945. Die indivduellen Reaktionen reichten von beredtem Schweigen bis zu öffentlichen Protesten und lassen sich zum Teil aus der Biografie und Karriere der einzelnen Schriftsteller erklären. Es seien hier Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Franz Werfel, Arnold Schönberg, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Lion Feuchtwanger und Thomas Mann als Beispiele ausgewählt. Mit Ausnahme von Brecht und Mann stammten alle aus jüdischen Familien, doch einige waren aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten, wie zum Beispiel Werfel, oder waren konvertiert, wie Döblin und Schönberg. Mann und Brecht waren mit Frauen aus jüdischen Familien verheiratet.
Brechts Beiträge zur Diskussion stammten zum größten Teil aus der Zeit seines Exils in Dänemark während der dreißiger Jahre. Dazu gehören „Die jüdische Frau” aus dem Zyklus „Furcht und Elend des Dritten Reiches” und die „Ballade von der ‘Judenhure’ Marie Sanders“, die beide gegen die Nürnberger Rassengesetze gerichtet waren. Mit Ausnahme von drei Gedichten zur Erinnerung an Walter Benjamin hat sich Brecht während seines kalifornischen Exils selten zur Judenfrage geäußert. Wie man seinem Drama „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe” entnehmen kann, hielt Brecht den Antisemitismus für eine Taktik der Nazi-Regierung, um von ihrer Strategie zur Zerschlagung der Arbeiterklasse abzulenken. Diese Auffassung entsprach der Politik der Komintern von 1933.
Brecht hielt den Zionismus für eine Art jüdischen Faschismus, wie Walter Benjamin in seinen „Versuchen über Brecht” feststellte. Doch diese Aussage stammt ebenfalls aus den dreißiger Jahren. In den vierziger Jahren erwähnte Brecht die deutschen Konzentrationslager in dem Aufsatz „The other Germany”, einem seiner wenigen Texte auf Englisch. Doch als Häftlinge erwähnte er keine Juden, sondern nur Vertreter des „Anderen Deutschlands”, Widerstandskämpfer, die von Hitler zu „Kriegsgefangenen” in ihrem eigenen Lande gemacht worden seien. Brecht argumentierte, Hitler hielte ganze Armeen in den Konzentrationslagern gefangen, er nannte die Zahl von 200.000 und fügte hinzu, “mehr Deutsche, als die Russen in Stalingrad gefangen genommen” hätten.
Auf der anderen Seite dieses Spektrums von Aussagen befand sich die zionistische Position Arnold Schönbergs. Nach seiner Entfernung aus der Preußischen Akademie der Künste in Berlin war er in Paris offiziell zum Judentum rekonvertiert und befaßte sich bereits 1933 eindringlich mit der Frage des Überlebens der europäischen Juden angesichts der drohenden Gefahr. Er entwarf ein Vier-Punkte-Programm zur Errettung der europäischen Juden, das einzig dasteht in seiner Voraussicht des Holocaust. Das Programm lag 1938 auf Englisch vor und ist jetzt in einer deutschen Rückübersetzung zugänglich. Schönberg sprach davon, daß sieben Millionen emigrieren müßten: „Gibt es Raum in der Welt für nahezu 7 000.000 Menschen? Sind sie zur Verdammnis verurteilt? Werden sie ausgelöscht werden? Ausgehungert? Geschlachtet?” Schönberg hielt den Kampf gegen den Antisemitismus für aussichtslos und forderte dagegen die Gründung einer jüdischen Einheitspartei, die Einstimmigkeit des Judentums und die Errichtung eines unabhängigen jüdischen Staates. Er erklärte, daß es nur einen Weg gäbe, „das Judentum zu retten: ein Land zu erhalten, in das die Juden emigrieren können“. Schönbergs Oratorium „A Survivor from Warsaw” von 1947 ist die tragische Antwort darauf, daß damals niemand auf seine Warnung gehört hatte.
Adorno und Horkheimer waren von der Dringlichkeit der Judenfrage überzeugt. Im Antisemitismus sahen sie die Aufklärung an ihre Grenzen gelangt und lieferten einen theoretisch hochentwickelten Beitrag über „Elemente des Antisemitismus” in der „Dialektik der Aufklärung” von 1947. Sie diskutierten dabei sieben Typen des Antisemitismus, den sie nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Vereinigten Staaten weit verbreitet fanden. Einige der Argumente sind höchst aufschlußreich, wie zum Beispiel die Einsicht, daß der Antisemitismus für das Volk „ein Luxus” sei. Die Arisierung des jüdischen Eigentums habe „den Massen im Dritten Reich kaum größeren Segen gebracht als den Kosaken die armselige Beute, die sie aus den gebrandschatzten Judenvierteln mitschleppten“. Andere Argumente wirken dagegen überspitzt, wie zum Beispiel, daß Juden eine „größere Affinität zur Natur” besäßen, und diese „Affinität” sozusagen „ihr Lebenselement” sei. Oder daß die Antisemiten die Juden um ihr „Glück ohne Macht” beneideten. Einige der vertretenen Ansichten sind offensichtlich falsch, wie zum Beispiel die Feststellung, daß es „keine Antisemiten mehr” gebe.
Dabei verschwiegen Adorno und Horkheimer, daß die Ergebnisse ihres Forschungsprojekte über Antisemitismus unter amerikanischen Arbeitern nicht veröffentlicht wurden, weil sie zu negativ für die Arbeiterklaße ausgefallen waren.
Werfels und Döblins Beiträge zur Debatte über die Judenfrage weisen eine andere Problematik auf. Werfel war 1929 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten, um Alma Mahler zu heiraten. Einige seiner Romane während der zwanziger und dreißiger Jahre wie „Barbara oder die Frömmigkeit” (1929) und „Der veruntreute Himmel” (1939) verherrlichten die katholische Volksfrömmigkeit der tschechischen Dienstboten. Als Werfel 1940 in Frankreich um seine Rettung bangen mußte, legte er ein Gelübde ab, daß er einen Roman über Bernadette Soubirous, die Heilige von Lourdes, schreiben würde, wenn er sicher nach Amerika gelangen würde. Er wolle „das Lied von Bernadette singen“, so gut er es könne. Der Roman war ein kommerzieller Erfolg und wurde verfilmt. Jennifer Jones, die Darstellerin der Bernadette, erhielt einen Oscar, doch die Exilanten kritisierten Werfel, daß er zur Zeit der Judenverfolgung einen Roman über eine katholische Heilige geschrieben und ein privates Gelübde kommerziell ausgenützt habe. Sein nächstes Werk, die Tragikomödie „Jakubowski und der Oberst” über einen antisemitischen polnischen Oberst, dem die Flucht nach England mit Hilfe eines jüdischen Flüchtlings gelingt, hat trotz des Erfolges auf dem Theater und im Film ebenfalls Kritik wegen der stereotypen Figuren hervorgerufen. Die im Werk angelegte Komik beruhte zum Teil auf antisemitischen Klischees.
Werfel hat sein Verhältnis zum Christentum in einer Reihe von Aphorismen unter dem Titel „Zwischen Oben und Unten” dargestellt. Diese Aphorismen erklären seine Position als Jude, der an Christus glaubt. Die Juden sind nach Werfel „das unverwüstliche Zeugnis” von Christus. Israel habe „durch Leid der Verfolgung und Zerstreuung” das Christentum auf Erden negativ bezeugt. Werfel erhebt die rhetorische Frage: „Was wäre Israel ohne die Kirche? Und was wäre die Kirche ohne Israel?” Beide bedingten einander. Israels sei „weiter die Perlmuschel, so wie Christus weiter die Perle” bleibe. Werfel kritisierte jedoch den Juden, der zum Taufbecken tritt, als Deserteur. Aus diesem Grunde konvertierte Werfel nicht, weil er die Taufe als einen Abfall nicht nur von Israels Mission, sondern auch von Christus betrachtete, denn er hätte damit in Willkür sein von der Geschichte auferlegtes Leiden unterbrochen. In diesem Zusammenhang beschuldigt er Israel sogar des Antisemitismus, denn es habe durch seine Wesensart und Seinsform diese Sünde unter den Christen und Heiden hervorgerufen.
Der Zionismus war für Werfel eine Flucht vor dem Leben als Jude: „Man wird Hebräer, um nicht mehr Jude zu sein.” Trotz dieser Theologie, die eine Geschichte des Leidens für das jüdische Volk zu rechtfertigen suchte, hat Werfel 1945 nicht gezögert, das deutsche Volk für den Völkermord an den Juden verantwortlich zu machen („Botschaft an das deutsche Volk”).
In Werfels letztem Roman „Stern der Ungeborenen” von 1945, einem utopischen Reiseroman in das südliche Kalifornien hunderttausend Jahre später, sind die katholische Kirche und das Judentum die einzigen Institutionen der Vergangenheit, die überlebt haben. Das Gespräch des Protagonisten mit dem Großbischof scheint auf eine Entscheidung zu Gunsten des Christentum zu verweisen, doch der Dialog mit dem „Juden des Zeitalters” mit dem bezeichnenden Namen Saul Minjonman sollte weiterhin an die gegenseitige Bedingtheit erinnern.
Alfred Döblins Hauptwerk im Exil war der vierteilige Roman „November 1918,” der die Geschichte der Revolution in Berlin, die zum Scheitern verurteilt war, zum Thema hat. Döblin schrieb den letzten Band in Los Angeles. Sein Titel „Karl und Rosa” verweist auf den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg während des Spartakus-Aufstands im Januar 1919. Die historische Handlung wird ergänzt um den fiktiven Lebenslauf des Gymnasiallehrer Friedrich Becker, dessen Erlösung von zentraler Bedeutung für den Roman ist und Döblins Bekehrung zum Katholizimus reflektiert. Döblin und seine Frau hatten sich von der jüdischen Gemeinde distanziert, doch auf seiner Polenreise 1925 hatte der Schriftsteller sich wieder mit seiner jüdischen Herkunft identifiziert. Im Exil in Frankreich hatte er sich der Freiland-Bewegung angeschlossen, die sich für die Emigration europäischer Juden nach Übersee einsetzte. Er schrieb eine Reihe von Artikeln für die Freiland-Bewegung und veröffentlichte zwei Schriften mit den Titeln „Jüdische Erneuerung” und „Flucht und Sammlung des Judenvolks“. Doch die traumatischen Erfahrungen seiner Flucht aus Frankreich bewirkten seine Bekehrung zum Katholizismus in Los Angeles. Er gab seine religiöse Wendung anläßlich seines 65. Geburtstags 1943 bekannt, doch hielt er seine Bekehrung geheim, weil er seine jüdischen Freunde nicht enttäuschen wollte.
Wie entscheidend Döblins Bekehrung für seinen Roman war, läßt sich nicht nur daran erkennen, daß er buchstäblich Engel und Teufel um die Seele seines fiktiven Protagonisten kämpfen läßt, sondern besonders daran, daß er die historische Rosa Luxemburg in eine christliche Heiligenfigur verwandelt, die bei Döblin von ihrer jüdischen Vergangenheit erlöst wird. Es handelt sich um einen Konzeptionsbruch. Der ursprünglich historisch angelegte Roman der politischen Geschichte der Weimarer Republik wurde im letzten Band durch eine christliche Heilsgeschichte ersetzt.
Im Vergleich dazu erscheint Lion Feuchtwanger als der vorbildliche jüdische Autor, der seine Karriere 1925 mit „Jud Süß” begann, dem schon damals umstrittenen Roman über einen Hofjuden, der 1738 nach einem antisemitischen Schauprozeß in Württemberg hingerichtet wurde. Darauf folgten „Erfolg“, der erste Anti-Hitler-Roman in Deutschland von 1930, die Flavius Josephus-Trilogie über den jüdischen Historiker des römischen Reiches (1932-1942) und die „Geschwister Oppenheim” (1933) über die Anfänge der Judenverfolgung in Deutschland. Auf die Frage, ob er sich „als deutscher oder als jüdischer Schriftsteller fühle“, pflegte Feuchtwanger zu antworten, daß er „nicht das eine noch das andere” sei. Er fühlte sich „als internationaler Schriftsteller.” Wahrscheinlich seien seine „Inhalte mehr jüdisch betont“, seine „Form mehr deutsch.” Er beendete seine Laufbahn mit zwei Romanen über jüdische Themen: „Die Jüdin von Toledo” von 1955 und „Jefta und seine Tochter” von 1957. Unter den fünfzehn Romanen, die er schrieb, befaßten sich sieben mit ausschließlich jüdischer Thematik. Obwohl man ihm ein kommunistisches Etikett anhängen wollte wegen seines positiven Reiseberichts „Moskau 1937,” war er ein jüdischer Schriftsteller, der aus einer orthodoxen Familie stammte und seine jüdisch orthodoxe Bildung für seine Romane fruchtbar machte.
Thomas Mann ist vielleicht der schwierigste Fall unter den Exilschriftstellern in Los Angeles. Die Forschung hat in jüngster Zeit besonders auf die negativ gezeichneten jüdischen Figuren in seinen Werken von „Wälsungenblut” und „Tristan” bis zum „Doktor Faustus” hingewiesen und auf peinliche Aussagen in seinen Briefen und Tagebüchern aufmerksam gemacht. Auf der anderen Seite hat Mann mit seinem Josephsroman, der 1943 in Los Angeles abgeschlossen wurde, zur jüdischen Renaissance in der Literatur beigetragen. Ruth Klüger hat dieses Werk als „großartigen und begeisterten Tribut eines Nichtjuden an die jüdischen Tradition” bezeichnet. Mann habe ein „Juden-Epos” geschaffen, indem er die Josephsgeschichte als ein „Menschheits-Epos” verstand.
In seinen Rundfunksendungen nach Deutschland und in seinen öffentlichen Vorträgen in den Vereinigten Staaten wies Mann seit 1942 auf den
Völkermord an den Juden hin. Da Thomas Mann als Wortführer der deutschsprachigen Exilanten galt, kam seinen Aussagen besonderes Gewicht zu. Als die Konzentrationslager befreit wurden, veröffentlichte er am 12. Mai 1945 einen Artikel in der Zeitschrift „The Nation” unter dem Titel „The Camps,” in dem er erklärte: „Offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt.” Wenige Tage später wurde dieser Artikel von der amerikanischen Militärregierung auch in Deutschland veröffentlicht. Im März 1948, als die Vereinigten Staaten drohten, ihre Zustimmung zur Errichtung eines jüdischen Staates zurückzuziehen, setzte sich Mann vorbehaltlos für die diplomatische Anerkennung Israels ein.
Eine Debatte zur Judenfrage, wie Kevin Starr sie sich vorstellte, hat unter den deutschsprachigen Exilschriftstellern in Los Angeles nicht stattgefunden, doch aufgrund der zahlreichen Aussagen kann man sich ein repräsentatives Bild von der Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Standpunkte machen. Auffällig ist dabei, wie stark die Aussagen von der Biografie der Autoren bestimmt sind, und daß man nur bei wenigen einen eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit feststellen kann. Die berufliche Solidarität verhinderte eine öffentliche Debatte. Es gab zwar Kritik, aber diese konzentrierte sich auf literarische Fragen, wie zum Beispiel die Darstellung der Visionen der Bernadette in Werfels Roman. Außerdem lagen viele Texte noch nicht im Druck vor, wie zum Beispiel Brechts Gedichte oder Döblins „November 1918“-Roman, der erst 1950 erschien. Der Hauptgrund liegt aber vielleicht darin, daß die eigentliche Debatte um den Holocaust — das Wort wurde damals noch nicht verwendet — erst 1961 mit dem Eichmann-Prozeß und Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem” einsetzte und zwar mit internationaler Beteiligung.

Ehrhard Bahr, Distinguished Professor Emeritus of German Department of Germanic Languages, University of California, Los Angeles