13. Jahrgang | Nummer 1 | 18. Januar 2010

In Ulm

von Renate Hoffmann

Daß er mir leibhaftig begegnen würde, der Schneider von Ulm, damit rechnete ich nicht, als ich aus der Bahnhofshalle trat. Aber sein Wesen in Stein oder Stahl oder sonst wie gestaltet, zu sehen, als Begrüßungselement für den neugierigen Besucher, das erhoffte ich doch. Ein anderer, nicht vermutet in der Stadt an der Donau, schiebt sich ins Bild. Die Skulptur in der Bahnhofstraße, aus mächtigen, geradlinigen, hochstrebenden Graniten gefügt, hilft der Erinnerung auf. „Hier stand das Haus, in dem am 14. März 1879 Albert Einstein zur Welt kam.“

Nahebei schaut Albert höchstselbst von einem Relief und mustert mit skeptischem Blick das Geschiebe und Getriebe eines geschäftigen Dienstagvormittags. Man hat sein Abbild bunt bemalt. Er nimmt’s gelassen. War er doch nach seinem Eintritt in die irdische Sphäre ohnehin nur 15 Monate lang Bürger von Ulm. Die Stadt allerdings heftete sich an seine berühmter werdenden Fersen und setzte ihm Gedenkzeichen. Sie insgesamt wahrnehmend, hätte Einstein vermutlich mit hintersinnigem Humor gesagt: Zuviel der Ehr’ für ein Kleinkind. – In Wahrheit dachte er dankbar an seine Geburtsstadt, „da (sie) edle künstlerische Tradition mit schlichter und gesunder Wesensart verbindet.“

Als die Presse 1920 weltweit über Einsteins neuartige Erkenntnisse berichtete, wurden die Ulmer hellhörig. Doch besaßen sie von jeher ein gewisses Maß an Skepsis (die schlichte, gesunde Wesensart!). Deshalb fragte man bei kompetenter Stelle an, ob diese wissenschaftliche Arbeit wirklich so bedeutend sei, wie allenthalben verkündet. Die Antwort hieß: Der Physiker sei „ein zweiter Newton“. Daraufhin beglückwünschte ihn die Stadt. Nach der Auszeichnung Einsteins mit dem Nobelpreis (1922), erhielt er in Ulm auch seine Straße. Man gab ihm davon Kenntnis und er antwortete: „Von der nach mir benannten Straße habe ich schon gehört. Mein tröstlicher Gedanke war, daß ich ja nicht für das verantwortlich bin, was darin geschieht.“

Während der nationalsozialistischen Ära geschah, erwartungsgemäß, die Umbenennung der Einsteinstraße und danach – die Rückbenennung. Es hieß, der Namenspatron habe den Wandelprozeß folgendermaßen kommentiert: „Ich glaube, ein neutraler Name, z. B. ‚Windfahnenstraße’, wäre dem politischen Wesen der Deutschen besser angepaßt und benötigte keine Umtaufen im Laufe der Zeiten.“ Weise gedacht von dem Manne, der die Formel E = mc² aufstellte (Masse und Energie sind äquivalent. Tiefere Zusammenhänge bleiben mir verborgen), gern Gurkensalat aß – nachzulesen bei Anna Seghers – ; und der mutmaßte, daß zwei Dinge unendlich seien: die menschliche Dummheit und das Universum. Bei letzterem hege er noch Zweifel.

Die Ulmer flochten ihrem naturwissenschaftlichen Genie Kränze. Die Volkshochschule trägt seinen Namen. – Im Foyer begrüßt Herr Albert Einstein als Porträtbüste in Bronze die Gäste des Hauses. Sein wuchtiges, edles Haupt ist durchschaubar. Sozusagen freigeschaltet für den Durchzug Weltbilder erschütternder Gedanken. – Auf der Stele liegt eine Frühstücksdose aus der Knoblauchduft schwadet. Die nebenstehende Damenrunde ißt, trinkt, lacht und vertreibt sich schwatzend eine Seminarpause.

In der ersten Etage erwartet den Besucher die umfängliche Wort- und Bilddokumentation zum Sohn der Stadt – von der Wiege bis zum Grabe. Nach der vorliegenden Geburtsurkunde „ … erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt, der Kaufmann Hermann Einstein, wohnhaft Bahnhofstraße 135 … und zeigte an, daß von der Pauline Einstein … seiner Ehefrau … in seiner Wohnung am vierzehnten März des Jahres tausend achthundert siebenzig und neun Vormittags um elf ein halb Uhr ein Kind männlichen Geschlechts geboren worden sei, welches den Vornamen Albert erhalten habe … “ Im Bilde zu sehen: E. als Schüler in Aarau, als eidgenössischer Beamter in Bern, als Ehrendoktor der Pariser Sorbonne. E. in Berlin, London, New York, Princeton und Pasadena. Auf dem Schiffe und zu Land. E. mit seinen beiden Frauen (nacheinander); mit Marie Curie, Max Planck, Max von Laue; mit Rabindranath Tagore und Charlie Chaplin. Albert Einstein, die Zunge bleckend und beim Anzünden einer Pfeife, aus der erste Wölkchen aufsteigen. Der Physiker, anläßlich seines 75. Geburtstages, vor dem großmächtigen Modell des Albert-Einstein-Colleges of Medicine, Bronx / New York. Höflich lächelnd.

Auf dem Hof des ehemaligen, im Krieg stark beschädigten und zum Teil restaurierten, reichsstädtischen Ulmer Zeughauses – nunmehr ergänzt durch ein neues Behördenzentrum – plätschert Einsteins Brunnenanlage (wenn sie Wasser führt). Wer einen mathematisch-physikalisch verschlüsselten Wasserspeier erwartet, aus dem mystische Formeln tröpfeln, der irrt. Auf dem Unterteil einer Rakete ruht ein Schneckenhaus – und dort guckt Albert raus. Unklar bleibt: Will Einstein rein in das Haus oder raus aus dem Haus? Wußte der Künstler Jürgen Goertz aus Sinsheim, als er die Brunnenplastik konzipierte, von Einsteins Hang zur Zurückgezogenheit? Meine Deutung des Symbolgehaltes neigt eher zu: Beschleunigung und Verzögerung; enteilen und verweilen; volkstümlich abgewandelt: Eile mit Weile.

Heute ist Tag der Physik. Im Ulmer Münster, dem gotischen Meisterwerk mit der Farbenpracht seiner Fenster und dem lebendigen Figurenschmuck des Chorgestühls – hängt im Seitenschiff ein Foucaultsches Pendel. Nur für kurze Zeit, so lautet die Auskunft.

Eine große Holzscheibe auf dem Boden ist mit einer Kreiseinteilung versehen. Im Außenring liegen, dicht aufgereiht, Tischtennisbälle. Und das Pendel, irgendwo im himmelhohen Deckengewölbe angebracht, schwingt. Viele Leute umstehen das physikalische Experiment. Erwartungsvoll. Der Sohn fragt den Vater: „Was passiert jetzt?“ „Die Erde dreht sich …“, „klar, weiß ich!“ „Das Pendel ändert scheinbar die Richtung, aber das stimmt nicht. Die Erde dreht sich um ihre Achse und unter’m Pendel weg.“ „Und was soll ich hier sehen?“ „Daß die Erde sich dreht!!“ „Das weiß ich auch so.“

Die Spannung wächst. Das Pendel nähert sich Millimeter um Millimeter dem nächsten Bällchen. Ein Aufschrei: „Jetzt!“ und die weiße Kugel rollt aus der Vertiefung. Der Vater zum Sohn: „Hast du’s nun begriffen?“ „Nee.“ „Dann fragste gefälligst deinen Physiklehrer!“

Ich wandere zum Donauufer. Hier ist der Fluß bereits ein Strom. Über die Parkanlagen zieht der Herbst. Und der Tag zeigt Spätnachmittagsbläue. Stromabwärts an der Adlerbastei lag Berblingers Startplatz. Er ließ auf die Mauer noch ein sieben Meter hohes Holzgerüst setzen. Der Abflug schien nun aus insgesamt 19 Metern Höhe gesichert zu sein.

Der Publikumsandrang war groß. Die Donauüberquerung konnte beginnen. Zwar kannte sich der Schneider in den Gesetzen der Mechanik aus, aber kaum in denen der Thermik und Aerodynamik. Über dem Wasser fehlte der Aufwind. Und der Pilot fiel wie ein Stein in die Donauwellen rein. – Ein trauriges Ende, das dem Ulmer Ikaros viel Spott einbrachte.

Zum Jubiläum des mißglückten Versuches 1986, gelang es bei einem Wettbewerb doch noch, die Donau an jener bewußten Stelle zu überfliegen (die Thermik blieb natürlich ebenso widrig wie vor 175 Jahren).

Auf dem Rückweg komme ich am „Metzgerturm“ vorbei, einem uralten Einlaß in der Stadtmauer. Er ist durch Bodensenkungen 2,05 Meter aus der Geraden geraten. Ich frage mich, wie man es denn nun mit seiner Statik hält?